Gerhard Hanak
Pyramiden
1. Amtsrat Klossowski
Es war Freitag, der 22. April 2000, exakt 14 Uhr, und der Amtsrat
Klossowski stand direkt neben seinem geräumigen Schreibtisch, in
der dritten Etage des Amtsgebäudes hinter dem Rathaus, und blickte
versonnen und etwas abwesend hinunter auf die Straße, wo auf dem
Asphalt kaum mehr etwas von den Regenfällen des Vormittags zu
bemerken war. Es waren unergiebige Regenschauer gewesen, wie sie in
dieser Jahreszeit nicht ungewöhnlich waren. An der Tür pochte
es, ein schwaches, verhaltenes, klebriges Pochen und ohne daß der
Amtsrat irgendeine Aufforderung ausgesprochen hätte, öffnete
sich jetzt die Tür und der Amtsgehilfe Klutz trat ein, murmelte
eine undeutliche Grußformel, nahte sich dem Schreibtisch und
überreichte dem Amtsrat ein umfängliches Papierkonvolut. "Der
Forschungsbericht, der für Sie abgegeben wurde, von einer Dame,
aber Sie waren gerade bei Tisch und sie wollte nicht warten", sagte
Klutz, mit einem leicht vorwurfsvollen Tonfall, wie es schien, wuchtete
sich in der Art eines untrainierten Kugelstoßers auf dem Absatz
herum und schickte sich an, das geräumige Zimmer, in welchem
Klossowski inmitten von Akten, Plänen und Bildbänden von
ägyptischen Nekropolen amtierte, wieder zu verlassen, mit leicht
hinkenden Schritten, wie man sie oft an Amtsgehilfen beobachten kann.
"Wünsche klare Sicht - und ein erholsames Wochenende", fügte
Klutz noch hinzu, die klauenartigen Finger schon um die Türklinke
geschlossen, und Klossowski fragte sich, ob nicht etwas
Aufsässiges in seinem Ton zu bemerken war. "Gleichfalls, Klutz",
erwiderte der Amtsrat, immer noch etwas zerstreut, jetzt aber nicht
mehr aus dem Fenster blickend, sondern auf die Papiere, die in einer
sogenannten Klarsichthülle steckten. "Zopf Calligraphic", dachte
der Amtsrat mit einem leichten Staunen. "Zuletzt kamen die Berichte
doch meist in Avantgarde oder Gothic...", murmelte er, während die
Tür sich gerade geräuschvoll hinter Klutz schloß.Einen
Augenblick erwog er, den Bericht in der Zwischenablage zu deponieren,
schloß ihn dann aber doch im Geheimfach seines Schreibtischs ein.
Es war sicherer so. Man konnte schließlich nicht wissen, ob der
Report brisante Materialien enthielt - und die Vorstellung, daß
Daten, welche die Öffentlichkeit beunruhigen konnten, so wie
damals die Konzepte für Süßenbrunn, von unbefugten
Personen eingesehen wurden, schien ihm grauenhaft. Erst kürzlich
war Klossowski einmal aus dem Schlaf hochgeschreckt, nicht im Büro
natürlich, sondern zu Hause, wo er sich zuweilen stundenlang
unruhig auf seinem Lager wälzte... Er hatte geträumt, er
betrete nach Mitternacht sein Büro, um wichtige Unterlagen zu
holen, die er dort vergessen hatte - und schon auf dem Korridor hatte
er den verdächtigen Lichtschein aus seinem Zimmer bemerkt, der ihn
prompt in Panik versetzte. Wer mochte sich nachts in seinen
Gemächern aufhalten? Oder hatte bloß die Putzfrau
verabsäumt, das Licht auszumachen? Er nahte sich mit vorsichtigen,
geräusch-vermeidenden Schritten und als er vor der Tür
angelangt war, hörte er zwei Stimmen. Die eine war untrüglich
die des Amtsgehilfen Klutz, die andere die einer Frau. Im Traum hatte
Klossowski auf eine Art gehandelt, wie es ihm im wirklichen Leben nie
möglich gewesen wäre: Plötzlich hatte er ein Terzerol in
der Hand, scharf geladen, riß in einer Sofort-Entscheidung die
Tür auf und überraschte die beiden Personen, die sich
unbefugt an seinem Schreibtisch zu schaffen gemacht hatten und gerade
im Begriff waren, die Schubladen zu durchwühlen. Es war leicht zu
erkennen, daß sie beabsichtigten, Mikrofilmaufnahmen von einigen
Kartogrammen und Tabellen herzustellen, die der Amtsrat vor wenigen
Stunden dort eingeschlossen hatte: Es waren Planungsunterlagen für
die Stadterweiterungsgebiete an der Peripherie. Die Kartogramme zeigten
die Strukturdaten der unmittelbar angrenzenden alten Ortskerne. Einige
Konzepte bezüglich der in diesen Stadtvierteln vorbereiteten
Straßenrückbauten, die den dortigen Individualverkehr
endgültig zum Erliegen bringen sollten, waren den beiden
Eindringlingen schon in die Hände gefallen und lagen jetzt achtlos
verstreut auf dem bordeauxfarbenen Teppich, sehr zum Mißfallen
Klossowskis, der solche Unordnung gar nicht schätzte...
[...]
Von den privaten Leidenschaften des Klutz wußte Klossowski so gut
wie nichts, vielleicht gab es auch keine. Schwer vorstellbar war in
jedem Fall, daß vampyrhafte, oder gar dämonische Frauen
irgendeine Rolle im Leben des Amtsgehilfen spielten, der Tag für
Tag in einem blauen, abgenützten Arbeitsmantel erschien und die
knapp bemessene Mittagspause in der Kantine verbrachte, wo er meist
allein an einem peripheren Tisch saß, ein veritabler
Eigen-Brötler, sich mit einem Imbiß begnügend, zu dem
er ein Glas Fanta trank. Klossowski selbst besuchte diese Kantine, in
der vor allem die Hausarbeiter und Schreibkräfte verkehrten, nur
selten. Meist tafelte er anderswo, doch wenn er sich unter argem
Zeitdruck befand und eine reguläre Mittagspause nicht in Betracht
kam, betrat er die Kantine, um von dort ein Coca Cola zu holen oder
einen Schoko-Riegel...
Aber es war nicht besonders sinnvoll, an einem Freitag nachmittag
über Klutz und dessen private Angelegenheiten nachzudenken.
Klossowski zog die prachtvolle Uhr aus der Westentasche. Das
Zifferblatt zeigte Viertel nach zwei. Es war eine sehr präzise
Uhr. An diesem Tag war der Amtsrat überaus elegant und vornehm
gekleidet, wie sonst eigentlich nur zu Zeiten, wo Foto-Termine im
Büro des Stadtrats anberaumt waren oder wenn andere
öffentliche Empfänge oder Sitzungen im Wappen-Saal, im
Beisein des Bürgermeisters und seiner singenden Gemahlin,
stattfanden. Wenn der Bürgermeister chaotisch-polternde Ansprachen
hielt und seine Gemahlin Evergreens intonierte, a capella oder von
einem zufällig anwesenden Pianisten begleitet, spielte Klossowski
leicht genervt mit seiner Uhrkette, nestelte an der Westentasche herum,
erforschte deren innere Nähte und vollzog andere sogenannte
Übersprungshandlungen, die ihm das Transzendieren aktuellen
Ungemachs erlaubten. Man hätte sagen können: Er kannte die
Auftritte des Bürgermeisters und der Soubrette wie seine
Westentasche... Klossowski bevorzugte grundsätzlich ein dunkles
Blau. Seine Sakkos, seine Westen, seine Übergangsmäntel,
seine Baskenmütze waren in diesem Farbton gehalten, die Hose meist
grau, mit perfekter Bügelfalte. Kaum merklich legte sich jetzt die
etwas hohe Stirn des Amtsrats in Falten, der immer noch stehend an
seinem Schreibtisch verharrte. - Das war es auch, was den Amtsgehilfen
Klutz manchmal erstaunte: daß Klossowski kaum jemals an seinem
Schreibtisch saß, wie andere Amtsräte, die meist in
irgendwelchen Papieren kramten oder mit grämlicher Stimme
telefonierten, wenn man überraschend eintrat. Klossowski aber
stand fast immer hoch aufgerichtet, sinnend neben dem Schreibtisch,
manchmal aus dem Fenster blickend, gelegentlich auch eines der
Kartogramme fixierend oder den an die Wand gespindelten Stadtplan, auf
welchem die statistischen Zählgebiete und ihre Grenzen verzeichnet
waren. Dann glich er einem Feldherren, der sich anschickt, weitere
Regimenter in die Schlacht zu werfen oder raffinierte Pläne zur
Einkesselung der feindlichen Truppen ausheckt und er murmelte
irgendwelche Zahlenkombinationen, die dem Laien wenig verrieten,
für den Kenner aber fatal sein mochten, zum Beispiel siebzehn -
eins, oder zwölf - vier. Einmal hatte Klutz die Zahlen, die er den
Amtsrat hatte murmeln hören, im Lotto gesetzt, mit bescheidenem
Erfolg. Klutz hatte sie in seinem abgegriffenen Kalender notiert.
Für ihn war es schwer, aus Klossowski schlau zu werden, aber er
ahnte, daß um den Amtsrat bedeutende Dinge von erheblicher
Tragweite vorgingen. In der Kantine hatte Klutz ein Gespräch
mitangehört, das am Nebentisch von zwei jungen Frauen geführt
und wo erwähnt wurde, daß das Pyramiden-Projekt jetzt bei
Klossowski ressortiere. Das war in einem geheimnisvoll-raunenden Ton
gesagt worden und klang so, als wäre der Amtsrat eine zentrale
Figur in einem kosmischen Ränkespiel, einer kolossalen
Verschwörung, von deren eigentlicher Dimension Klutz nur sehr
ungefähre Vorstellungen hatte. Aber wie gesagt: Der Amtsrat schien
kaum zu sitzen, auch kaum zu telefonieren. Oft stand er einfach da, in
der Art der Pharaonen, und blickte dabei in die Ferne.
Mit wenigen, wohlüberlegten Handgriffen erzeugte Klossowski jetzt,
kurz nach viertel drei, die erforderliche Ordnung auf seinem
Schreibtisch, packte ein paar dünne Schriftstücke in sein
Aktenköfferchen und verließ nach einem letzten,
prüfenden Blick die Stätte seines Wirkens. Niemand begegnete
ihm in den etwas labyrinthischen Gängen, die ins Treppenhaus
führten. Das war gut so. In den Korridoren waren die Wände
mit historischen Stadtplänen, Kartogrammen und
großformatigen Fotos dekoriert, die aus der sogenannten
Vogel-Perspektive aufgenommen waren und verschiedene markante
Ausschnitte des Stadtbilds zeigten. Autobahnkreuze und Hypertangenten,
den Donaukanal oder Wohngebiete mit extrem dichter Bebauung und
kleinteiliger Parzellierung, wo sich Dach an Dach drängte. Im
Treppenhaus setzte sich Klossowski die dunkle Baskenmütze leicht
verrutscht aufs vorzeitig angegraute Haupt, was ihm einen verwegenen
Ausdruck verlieh; sein ebenfalls angegrauter, dünner Schnurrbart,
der ihn in Verbindung mit der etwas hohen Stirn manchmal etwas
seehund-artig erscheinen ließ, zuckte unternehmungslustig, denn
es war Freitag und die dienstlichen Bürden und Düsternisse in
der Planungsabteilung des Magistrats lagen einmal mehr hinter ihm. Er
passierte den Glaskasten, in welchem sich der Portier befand, der kaum
von seiner Zeitung aufblickte und dessen Wangen wie aufgeblasen
wirkten, in der Art eines bebrillten Putto, wohl weil er gerade an
einem Schinken-Brot kaute und den Mund zu voll genommen hatte.
Klossowski trat hinaus ans Tageslicht. Über den neugotischen
Fassaden der umliegenden Häuser drangen ein paar Sonnenstrahlen
durch die blaugrauen Wolken, die in östlicher Richtung davonzogen,
in beachtlicher Geschwindigkeit, letzte Überreste eines
atlantischen Tiefdruckgebiets. Der elegante Amtsrat begab sich mit weit
ausholenden, gleichwohl abgezirkelten Schritten, wie sie einem
Mitarbeiter der Planungsabteilung gut anstanden, zu seinem
vorzüglichen, ökologisch unbedenklichen Automobil, das er
zwei Häuserblocks weiter geparkt hatte, vor einer Apotheke.
2. Fondamente Nuove
Er begab sich auf die Reise, die er ein oder zweimal im Monat zu
unternehmen pflegte und die ihn nach Venedig führte, wo er ein
Appartement in einem Haus besaß, das früher einmal ein nicht
wirklich prunkvoller venezianischer Palazzo gewesen und zeitweise von
einem minder bedeutenden Adelsgeschlecht der Lagunenstadt bewohnt
worden war. Ein Onkel des Amtsrates Klossowski, aus Umbrien
gebürtig, genauer: aus der Nähe von Orvieto stammend, war
nämlich vor drei oder vier Jahren verstorben, unter etwas unklaren
Umständen, die auch von der Gerichtsmedizin nicht wirklich erhellt
werden konnten, was möglicherweise auch die Abwicklung der
Verlassenschaft zu einer mühseligen Angelegenheit gemacht hatte,
die mehrere Notare und Gerichtsabteilungen zwei Jahre lang
beschäftigt hatte. (In diesem Zeitraum waren auch drei
Kanzleimitarbeiter der befaßten Notare verstorben, was der
zügigen Abwicklung nicht förderlich gewesen war.) Als sich
die Nebel des Erbrechts gelichtet hatten und die Serie von
Todesfällen endlich abgerissen war, wurde zunehmend deutlich,
daß der Onkel, der Giovanni geheißen, in seiner aktiven
Zeit als Kaufmann gute Geschäfte gemacht und ein solides Leben
geführt hatte, seinem Neffen, dem Amtsrat, mit dem er zuletzt kaum
noch Kontakt gehabt hatte, das Appartement in Venedig samt der dort
vorhandenen Möblierung und Gerätschaften vermacht hatte. Dies
war dem Amtsrat vor inzwischen einem Jahr mitgeteilt worden, in einem
komplizierten, schwer verständlichen Schreiben eines Notars aus
Treviso, wo der Onkel seinen Hauptwohnsitz gehabt hatte. Klossowski
hatte aufgrund der besonderen Umstände drei außerordentliche
Urlaubstage genommen, zur Erledigung seiner venezianischen
Angelegenheit, wie er sich ausgedrückt hatte, nach
Rücksprache mit dem Senatsrat Jarecki, dieser grauen, wenngleich
etwas beschränkten Eminenz, deren eigentliche Tätigkeit seit
mehreren Jahren anscheinend nur mehr darin bestand, überaus
schwungvolle Unterschriften unter wichtige Aktenstücke zu setzen
und außerordentliche Urlaubstage zu genehmigen, die aber sonst
kaum in Erscheinung trat, so daß viele Mitarbeiter anderer
kommunaler Dienststellen insgeheim glaubten, Jarecki sei schon im
Ruhestand oder gar verstorben. Der Amtsrat Klossowski hatte damals,
Anfang Mai 1999, in etwas zwiespältiger Gemütsverfassung
Venedig besucht, sich dort im Hotel Atlantide einquartiert, in der
Lista di Spagna, nicht weit vom Bahnhof, und am folgenden Tag das
Appartement besichtigt, das ihm als Erbe zugefallen war. Für
venezianische Verhältnisse war es ein recht durchschnittliches
Appartement, bestehend aus zwei mittelgroßen Zimmern und einer
engen, düsteren Kammer, nebst einer geräumigen Küche mit
modernster Einrichtung und den obligaten Nebenräumen. Die beiden
Zimmer waren mit alten düsteren Möbeln, schweren
hölzernen Unsinnigkeiten vollgestellt; es roch muffig, denn schon
seit Monaten war nicht mehr richtig gelüftet worden.
Staubschichten lagen auf Schränken, Kommoden mit gedrechselten
Beinen, restaurierungsbedürftigen Tischchen; ein massives Sofa
dominierte den living room. Die Tapeten schienen in schlechtem Zustand.
Klossowski erschauderte. Er schätzte mehr die moderneren,
funktionaleren Formen des Designs, er liebte überhaupt helle, klar
strukturierte Räume, in denen man herumgehen konnte und nicht nach
zwei bis drei Schritten an irgendein Hindernis stieß, das eine
Richtungsänderung erforderte oder einen abrupten Still-Stand. Er
bahnte sich den Weg zum Fenster, öffnete die schweren grünen
Läden. Ein paar Sonnenstrahlen ließen das Ambiente um
Nuancen freundlicher aussehen. Die alte Dame, welche ihm den
Schlüssel ausgehändigt hatte und im Korridor verharrte,
machte ein paar unbestimmt zeigende Handbewegungen, die wohl bedeuten
sollten: So ist es eben hier, der Herr wird darüber nachdenken
müssen, wie er sich einrichtet. Klossowski sprach vorerst nur
wenig italienisch. Was er gut konnte war, sich in einem Restaurant oder
einer Trattoria des gehobnen Standards verständlich zu machen.
Auch die Hinweistafeln auf Bahnhöfen oder im übrigen
Stadtbild waren ihm vertraut. Ein venezianischer
Listino Prezzi barg für ihn kein Geheimnis. Risotto alle vongole,
insalata mista, binario otto, andante e ritorno, come previsto, lotta
continua... In den Abendstunden erkundete Klossowski die nähere
Umgebung. Es war der Stadtteil von Venedig, der an den Fondamente Nuove
liegt, nicht weit von der Jesuitenkirche, keine wirklich
repräsentative Gegend, eher die Hinterhöfe der Stadt, abseits
der Touristenströme, wo vor allem die mit krächzendem
Singsang vorgebrachten Zurufe der Transportarbeiter zu hören
waren. Zwei Blocks weiter befand sich ein Elektroladen, wo TV-Apparate,
Voodoorecorder und CD-Players verkauft wurden. Das überfüllte
Schaufenster war mit Karnevalsmasken dekoriert, die wohl nicht zum
Verkauf bestimmt waren. Eine davon sagte Klossowski über die
Maßen zu. Es war die in Gold und Schwarz gehaltene Schnabelmaske
des dottore della peste, der vor ein paar hundert Jahren, auf Stelzen
ausschreitend, die Miasmen der Lagunenstadt durchwandert hatte.
Vielleicht gelingt es mir, dachte Klossowski, den Inhaber des Ladens
dazu zu bewegen, mir die Maske zu einem akzeptablen Preis zu
überlassen. Die Lira hatte in den vergangenen Jahren teils
dramatische Kursstürze hinnehmen müssen, bedingt durch
innenpolitische Unzukömmlichkeiten, die zeitweise auf
Unregierbarkeit des Landes hinausgelaufen waren, aber zuletzt hatte
sich die Landeswährung wieder halbwegs stabilisiert, dachte
Klossowski. Immer noch war es möglich, in Italien
einigermaßen wohlfeil und unbeschwert zu leben.
In den Abendstunden war es doch noch etwas zu kühl, um an den
Tischen der Straßencafes und Bars sich niederzulassen. Klossowski
schauderte. Er hatte die Baskenmütze im Hotel Atlantide
zurückgelassen. Morgen würde er erste Anweisungen betreffend
den Abtransport von Möbelstücken erteilen. Genau genommen
würde er auch entscheiden müssen, ob er sein Erbe
überhaupt antreten wolle. Er hastete die Fondamente Nuove entlang,
wandte den Blick hinüber, wo in der Abenddämmerung die
Konturen von San Michele noch zu erkennen waren und eigenartige
Lichterketten sich vielfärbig im Canal spiegelten.
In den folgenden Monaten hatte Klossowski die Renovierung des
Appartements in Auftrag gegeben und die Handwerker instruiert oder
durch Mittelsmänner instruieren lassen. ("Ha bisogno", so hatten
seine Anweisungen oft begonnen.) Einige der schweren
Möbelstücke und Teppiche, in denen schon Motten gehaust
hatten, waren von einem Antiquitätenhändler eigenhändig
abtransportiert worden, der dafür noch einen symbolischen Preis
bezahlt hatte. Das Appartement wirkte jetzt etwas geräumiger,
weniger düster. Die vielen Bilderrahmen und einige alte
Bücher hatte Klossowski in der engen Kammer zwischengelagert. Der
schwere Schreibtisch mit der amethystfarbenen Bespannung und den
klemmenden Schubladen war ans Fenster gerückt worden und sollte
restauriert werden. Daneben stand eine Truhe, randvoll mit Dokumenten,
Briefen und Fotos, die dem Onkel gehört hatten. Am Schreibtisch
sitzend konnte man die Fassaden der gegenüberliegenden Häuser
betrachten oder wenn man sich aus dem Stuhl erhob den Kanal, wo hin und
wieder Boote vorbeikamen, die Waren zustellten oder die schwarzen
Müllsäcke abholten, die sich in allen Hausfluren fanden. Den
Dezember des Jahres 1999 hatte Klossowski größtenteils in
Venedig verbracht, anfangs noch den Abschluß der Renovierung
überwachend, teils auch selbst den Pinsel schwingend - wie er sich
ausdrückte -, was den Türstöcken zum Vorteil gereicht
hatte, in den Tagen nach dem Weihnachtsfest sich gewissermaßen
schon als neuer Bürger der Lagunenstadt fühlend,
tagsüber die ihm noch unbekannten Stadtviertel erkundend, die Via
Garibaldi in der Nähe des Arsenals zum Beispiel. In früheren
Jahren hatte Klossowski Venedig vielleicht fünf oder sechsmal
besucht, aber das lag jetzt zehn oder zwanzig Jahre zurück und
damals hatte er sich vor allem in den Stadtvierteln und
Straßenzügen bewegt, die den an Architektur und bildender
Kunst interessierten Touristen bevorzugt anziehen, zwischendurch menu
touristico oder gulas mit wurstel in drittklassigen ristorantes
gespeist und dazu billigen
Tafelwein getrunken. Das alte Ghetto oder seine jetzige engere Heimat,
die Kanäle und Gassen an den Fondamente Nuove und um den Rio della
Misericordia hatten ihn damals nicht angelockt, obgleich er sich vage
erinnerte, sich ein oder zweimal in diese Gegend verirrt zu haben,
nachts wenn die krummen Gäßchen und die vielen gleichartigen
Brücken die Orientierung erschwerten, vor allem nach dem
Genuß des Tafelweins. Er hatte sich mit Dogenpalast, San Marco,
Campanile, Rialto, Ca d'Oro und Capuccino begnügt, den silbrigen
Fischgeruch in sich eingesogen, der an den Marktständen
vorherrschte, ab und zu die Bar alla Speranza aufgesucht, die oft an
seinem Weg lag und schon bald eine magnetische Anziehungskraft auf
Klossowski entwickelte, der damals noch kein Amtsrat gewesen war,
sondern ein junger Magistratsbeamter auf den ersten Sprossen der
Karriereleiter. Nur einmal hatte er den Lido aufgesucht, im Ristorante
"Blue Moon" gespeist, in der Nähe irgendwelcher Casinos, und sich
mit dem Vaporetto zur Giudecca bringen lassen, wo er minutenlang einen
Schuh betrachtet hatte, der dort direkt neben der Kaimauer im Wasser
schaukelte, eine Gondel en miniature.
Was den verstorbenen Onkel betraf, den Erblasser also, so hatte
Klossowski ihn kaum gekannt. In den Jahren seiner Kindheit war Onkel
Giovanni vielleicht vier oder fünfmal bei irgendwelchen
Familienfesten dabeigewesen, ein damals schon nicht mehr ganz junger
Mann mit zurückgekämmtem Haar, das pomadisiert im Nacken
klebte, mit sehr skeptischem Blick, wie einer, der oft in die
tiefstehende Sonne sieht, manchmal eine Pfeife rauchend oder sich
jedenfalls an ihr festklammernd, eine beigefarbene oder hellbraune
Weste tragend und eine kuriose Sprache sprechend. Giovanni sprach
deutsch, aber mit einer eigentümlichen umbrisch-venezianischen
Modulation, manchmal sich semantisch vergreifend, es aber meist rasch
bemerkend und sich dann auf konfuse Art korrigierend. Der Amtsrat
Klossowski wiederum konnte seine Herkunft aus einer Kärntner
Kleinstadt nicht gänzlich verbergen, wo er fast die Hälfte
seines bisherigen Lebens verbracht hatte. Die 24 Jahre, die er jetzt
schon in der Hauptstadt lebte, hatten seinen Dialekt fast zum
Verschwinden gebracht, was bei seinen Landsleuten keine
Selbstverständlichkeit ist, aber in Augenblicken der Empörung
oder der plötzlichen Überraschung (Gemütsaufwallungen
kamen gelegentlich vor) oder nach dem Genuß von ein oder zwei
Flaschen Gösser Gold verfiel er in den Tonfall seiner Heimat, zu
der er sonst fast alle Brücken abgebrochen hatte. Nur wenige
wußten, daß in einem seiner Schränke sich ein original
Kärntner Trachtenanzug befand, den er aber kaum jemals in der
Öffentlichkeit trug oder bei seinen monatlichen Opernbesuchen, den
er aber hin und wieder, vielleicht zwei oder dreimal jährlich
anlegte, zu besonderen Festtagen, damit vor dem Spiegel paradierend
oder im Wohnzimmer herumschreitend.
Vor einigen Monaten hatte Klossowski die Bekanntschaft einer in mancher
Hinsicht höchst bemerkenswerten Frau gemacht. Das war insofern
merkwürdig, weil er ansonsten wenig dazu beitrug, Bekanntschaften
zu machen und auch nur mäßige Eigenleistungen zur Erhaltung
oder Ausweitung von bereits bestehenden Bekanntschaften erbrachte.
Seine Beziehung zu Frauen war überhaupt etwas prekär:
Mitunter hatten sie ihre Meriten und waren charmant oder sogar
verführerisch, oder beeindruckten durch andere Eigenschaften, zum
Beispiel Scharfsinn, Klugheit oder vorzügliche Beobachtungsgabe,
aber auf mittlere Sicht nervten sie doch oft, sofern sie sich nicht gar
als Schreckschrauben erwiesen. Was Klossowski zur Zeit
hauptsächlich beschäftigte und an privaten Verstrickungen
hinderte, waren die ihm zugeteilten Agenden in der magistratischen
Planungsabteilung, wo er sich mit den Raumordnungsaspekten von
demographischen Entwicklungen befaßte, ein vor allem zu Zeiten
ökonomischer oder geopolitischer Umbrüche und vermehrter
Migration sensibler und verantwortungsvoller Bereich der
städtischen Verwaltung, der ihn weit über die offiziellen
Bürozeiten hinaus beanspruchte - daher auch die vielen Kartogramme
in seiner näheren Umgebung, zusammengerollt oder an die Wand
geheftet mit spitzen dünnen Stiften: In seinem Arbeitszimmer, im
Fond seines vorzüglichen Automobils, ja sogar im
Wäscheschrank entdeckte er gelegentlich zwischen hellblauen Hemden
und dunkelblauen Gilets Kartogramm-Röllchen, die aus
unerfindlichen Gründen dort gelandet waren. Wenn man diese Papyri
entrollte, zeigten sie die Konturen und Muster der städtischen
Topographie: Problemzonen und erneuerungsbedürftige
Sanierungsgebiete erschienen schraffiert oder überhaupt schwarz,
wogegen die attraktiven, intakten Stadtteile, die keiner
Förderungsprogramme bedurften oder die unbesiedelten Flächen
an der Peripherie weiß oder grau ausgewiesen waren... Zwei- oder
dreimal jährlich begab er sich auf mehrtägige Dienstreisen,
zu Kongressen oder kurzen Studienaufenthalten in europäische oder
nordamerikanische Metropolen, um sich dort mit neuen Entwicklungen in
seinem Arbeitsfeld vertraut zu machen und die anregende Atmosphäre
des akademischen Austauschs zu genießen. Dabei ergab sich ab und
zu die Gelegenheit zu geistvoller Konversation, dauerhafte
Bekanntschaften oder gar Freundschaften entstanden aus solchen
Begegnungen aber kaum.
3. Lucy Westinghouse
Die Frau, die unverhofft ins Leben des Amtsrates getreten war,
hieß Lucy Westinghouse, führte ein etwas unstetes Leben, in
dem Übersiedlungen ungefähr so häufig waren wie accents
graves in einem französischen Text oder etwas seltener als
Paragraphenzeichen in den Bundesgesetzblättern. In den vergangenen
fünf Jahren hatte sie in Graz, Lausanne, Prag und zuletzt in Wien
logiert. Sie war - wie auch der Amtsrat - von
überdurchschnittlicher Größe, überaus rothaarig,
etwas bleich und gegen das Sonnenlicht empfindlich, leicht
sommersprossig, stammte aus guter Familie, mit der sie seit ihrer
Jugend auf ziemlichem Kriegsfuß stand, und hatte im Lauf der
Jahre mehrere disparate Karrieren eingeschlagen, als Redakteurin einer
avantgardistischen Zeitschrift, als interimistische Direktorin einer
Galerie, als Verkäuferin im "Astro-Shop" einer Freundin, wo
esoterische Requisiten erhältlich waren, oder als Mitarbeiterin
eines Marktforschungsinstituts. Zuletzt hatte sie sich als
freiberufliche Kommunikationstrainerin etabliert, was niemanden
wirklich überraschte. Das von ihr bewohnte
80-Quadratmeter-Appartement in der Laudongasse, zeitweise von
übermäßigem Weihrauch-Duft penetriert, der einem
Messinggefäß im Wohnzimmer entwich, fungierte zugleich als
Praxis oder Büro, etwas beengt, wie man sich leicht vorstellen
kann, denn schon Lucys Garderobe war umfänglich und sie
besaß nach eigenen, glaubwürdigen Angaben etwa 40 Paar
Schuhe, die Stiefel nicht mitgezählt. Auch das Kontingent an
Sommer- und Abendkleidern war beachtlich, ganz zu schweigen von
Mänteln, Paletots, Jacken und Overalls mit Leopardenmuster.
Wie hatte der sonst so zurückhaltende, reservierte Amtsrat Lucys
Bekanntschaft gemacht? Die Frage ist nicht so einfach zu beantworten,
der Gründe gab es viele und nur komplexe Modelle der Pfadanalyse
oder stochastische Kalküle hätten das verwirrende
Ursachengeflecht erhellen können, doch hatte es zunächst
eines äußeren, trivialen Anlasses bedurft, um den Stein ins
Rollen, den Ventilator zum Rotieren zu bringen, oder auch: das
Roß zum Galoppieren. Es hatte eines unscheinbaren Morgens damit
begonnen, daß Klossowski auf dem damals regennassen Asphalt ein
blaues Etui erspäht hatte, als er sich anschickte die Fahrbahn der
Lenaugasse zu queren, auf dem Weg ins Cafe Eyeless, wo er
Milgram-Strudel zu verzehren und im "Standard" zu blättern
wünschte. "Sieh an", hatte Klossowski gedacht, sich beweglich
gebückt und das leicht verschmutzte Etui mit spitzen Fingern an
sich gebracht, sich umwendend mit der stummen Frage: "Nessuno mi ha
visto?" - Das Glück war ihm hold. Kein Zeuge hatte die Aneignung
des Fundes beobachtet. Das Etui sagte ihm zu, obwohl es mitnichten aus
edlem Material gefertigt war; wahrscheinlich wegen der dunklen
Bläue, die er an fast allen Gegenständen liebte. Er hatte das
Etui aber nicht gleich geöffnet, sondern zögerte diesen
Augenblick noch zwei oder drei Minuten hinaus. So wie die meisten
Annehmlichkeiten an zusätzlichem Reiz gewinnen, wenn sie durch
umständliche Vorbereitungshandlungen (Präliminarien)
hinausgezögert werden, sei es, daß die Katze mit der Maus
spielt oder im Kasperltheater die in Gefahr befindlichen Personen erst
im letzten Moment gerettet werden, d.h. zu einem Zeitpunkt, als das
kindliche Publikum sie schon verloren oder vom Krokodil gefressen
glaubt, so setzte auch Klossowski in dieser Situation auf die
stimulierende Wirkung retardierender Elemente. Erst als er in einer
bequemen Loge sich niedergelassen hatte, mit Blick auf die
Landesgerichtsstraße, und einige Gegenstände auf seiner
marmornen Benutzeroberfläche zurechtgerückt hatte, atmete er
ein paar mal kräftig durch, entzündete umständlich einen
Nikotinstab und machte sich daran, den Fund zu sichten, nicht
überstürzt und gierig, sondern anscheinend gelassen und
umsichtig. Zunächst beroch er das Etui, öffnete es sodann -
und fand insgesamt drei Ausweise und eine nicht mehr aktuelle
Scheckkarte, allesamt lautend auf Lucy C. Westinghouse, per Adresse
Laudongasse. Anders als die Scheckkarte, welche nur von dem
holographischen Bildnis eines tauben Compositeurs geziert
war, enthielten zwei der Ausweise Lucys Foto, das den Finder mehr zu
überzeugen vermochte. In einem der Ausweise klebte ein
erstaunliches Paßfoto, das eine bemerkenswert gut aussehende
junge Frau zeigte; das andere Konterfei war weniger gelungen und
entstammte ganz offenkundig einem Automaten, der gegen Münzeinwurf
Fotos von jämmerlicher Qualität erzeugte. Die Farben konnten
unmöglich stimmen. Auf diesem Bild sah Lucy ziemlich grün im
Gesicht aus, die Augen glänzten schreckgeweitet und in der Brille,
die Lucy auf diesem Foto trug, was ihr einen überaus strengen
Ausdruck verlieh, spiegelten sich nicht sehr vorteilhaft die Reflexe
des Blitzlichts. Klossowski atmete durch. Es verlangte ihn nach einem
belebenden Getränk. Wie so oft im Leben gab es mehr als eine
Möglichkeit. Er konnte den Fund für sich behalten, ihn
gewissermaßen unterschlagen und sich damit einer strafbaren
Handlung schuldig machen, könnte dann aber jederzeit Lucys Bildnis
betrachten, so oft und so ausgiebig er wollte. Es war aber auch
möglich, das Etui samt den Ausweisen per Post an Lucy zu senden;
er konnte sie natürlich auch persönlich aufsuchen, noch heute
Abend zum Beispiel... Oder er würde ihre Telefonnummer eruieren,
aus dem amtlichen Telefonbuch... Aber was, wenn sie eine sogenannte
Geheimnummer besaß? Er neigte den Kopf ganz schräg und
betrachtete nochmals das gelungenere der beiden Fotos, kaum bemerkend,
daß der solarium-gebräunte ältliche Ober, der stets so
vital wirkte, mit federnden Schritten an ihn herangetreten war und die
Bestellung aufzunehmen wünschte. Zerstreut wie er war, bestellte
Klossowski bloß eine Melange, vergaß ganz auf den
Milgram-Strudel...
Es war dem Amtsrat am Abend desselben Tages gelungen, Lucys
Telefonnummer festzustellen, doch war er dann nicht weiter aktiv
geworden, weil andere Angelegenheiten ihn in Anspruch genommen hatten.
Im Fernsehen wurde eine Dokumentation über neue Ergebnisse der
ägyptologischen Forschung gesendet, namentlich über
astronomische Dimensionen des Pyramidenbaus und über die sakrale
Bedeutung der Entlüftungsschächte, welche aus den Grabkammern
an die Oberfläche führten. Vom Sternbild Orion war die Rede
und wie es morphologisch mit der Anordnung der Pyramiden von Gizeh
übereinstimme, doch war vorerst höchst umstritten, welche
Schlüsse aus dieser Kongruenz zu ziehen waren. Am folgenden
Vormittag war eine Konferenz anberaumt, wo Klossowski mit
mäßigem Interesse bestimmte Überlegungen zur besseren
Koordination und Vernetzung der kommunalen Dienststellen
mitanhörte, indessen bizarre Spiralen, Vogelköpfe und
Pyramiden auf ein Blatt Papier kritzelnd. Erst als die Konferenz dem
Ende entgegenging und Senatsrat Jarecki die Ergebnisse derselben
umständlich resümierte, erinnerte der Amtsrat sich des Etuis,
verschwand rasch in seinem Zimmer, wo er Lucys Nummer wählte, ward
aber nur mit dem Anrufbeantworter verbunden. In eher
geschäftsmäßigem Tonfall lernte er also Lucys Stimme
anfänglich kennen, eine etwas geheimnisvolle Altstimme, die den
Amtsrat aufforderte eine Nachricht zu hinterlassen. Er tat es, sprach
mit belegter Stimme aufs Band, er ersuche um Rückruf während
der Amtsstunden, tunlichst vor 15 Uhr, es gehe um Lucys Ausweise, die
er gefunden habe, in der Lenaugasse, nächst dem Cafe Eyeless.
Es war zwei oder drei Minuten vor 15 Uhr, als der telefonische Apparat
auf seinem Schreibtisch schellte. Klossowski war gerade über
mehrere Kartogramme gebeugt, die er nebeneinander ausgebreitet hatte,
zu Vergleichszwecken. Im Korridor waren laute Stimmen zu hören,
die seine Konzentration schon seit Minuten beeinträchtigten und
durch das geöffnete Fenster drang ekstatisches Klavierspiel, was
in einem Amtsgebäude ungewöhnlich, wenn nicht gar
ungehörig war. Es dauerte ziemlich lang, ehe Klossowski den
Hörer abnahm. Dieser Umstand bewirkte, daß Lucy ein paar
Takte des Glockenspiels zu hören bekam, welches ertönt, wenn
an einem magistratischen Telefonanschluß nicht sofort abgehoben
wird.
Man verabredete sich für die Abendstunden, in einem Speiselokal in
der Josefstadt, auf halbem Weg. Klossowski meinte, aufgrund der Fotos
in den Ausweisen würde es ihm unschwer gelingen, Lucy zu erkennen.
Als Lucy umgekehrt nach möglichen Erkennungsmerkmalen fragte,
erwiderte er: Er sei Amtsrat, trage vor allem dunkelblaue Kleidung,
dazu eine Baskenmütze in eben dieser Farbe; seine Oberlippe ziere
ein leicht angegrauter Bart. Mit Narben, Tätowierungen oder
ähnlichen Auffälligkeiten könne er nicht dienen, doch
besuche er ab und zu die Oper, vor allem die Musikdramen Salieris und
Donizettis schätze er. Es wird kaum verwundern, daß Lucys
Neugier durch diese eigenartige Selber-Beschreibung des Amtsrates
geweckt worden war. Von Amtsräten wußte sie wenig, da sie
mit staatlichen und kommunalen Bürokratien bis dato wenig zu tun
gehabt hatte. Das Terrain, auf dem sie sich zuletzt bewegt hatte, waren
die Jagdgründe der Marktwirtschaft und der Organisationsberatung.
Sie goutierte diese Beschäftigungen nicht wirklich, es waren
"dillo Jobs" (nicht "tuli Jobs"), wie sie manchmal sich selbst
bemitleidend äußerte, in Gegenwart irgendwelcher Freunde
& Freundinnen. Es hätte ihr mehr behagt, die Tage in
Gemäldegalerien und Museen zu verbringen, beim Anblick von
Decollagen, Schüttbildern oder bizarren Rauminstallationen, oder
mit der Lektüre esoterischen Schrifttums. Aber der Umgang mit
Wirtschaftsmenschen, wie sie sich ausdrückte, vermittelte ihr doch
auch ein Lebensgefühl, das sie vormals nicht gekannt hatte: Sie
fühlte sich jetzt eminent wichtig, wo ihr die erstaunlichen
Transaktionen der Hochfinanz kein Buch mit sieben Siegeln mehr waren,
wo sie Bescheid wußte über die unsäglich quälenden
Nöte & Ängste des mittleren Managements...
4. Pallas Athene und der Kentaur
Das Treffen erfolgte wie verabredet. Klossowski hatte die Zeit nach
Büroschluß mit einem eher planlosen Rundgang durch die
Josefstadt und angrenzende Straßenzüge des Alsergrunds
verbracht, gelegentlich einen Blick in die Schaufenster werfend oder
einen Hinterhof erkundend. Lucy hatte ziemlich herumgetrödelt und
schaffte es spielend, gut eine Viertelstunde zu spät zu kommen,
obwohl der vereinbarte Treffpunkt nicht mehr als drei oder vier Blocks
von ihrem Appartement entfernt war. Fast schien es, als ob sie an der
Wiedererlangung ihrer Dokumente weniger interessiert wäre, als der
Amtsrat an deren Aushändigung. Lucys Verhältnis zu
Männern hatte sich zuletzt etwas kompliziert. Oft waren sie
ausgesprochen langweilig oder ganz schön infantil, wie sie nicht
nur in beruflichen Angelegenheiten schon mehrmals bemerken mußte.
Direktoren und Vorstandsmitglieder von multinationalen Konzernen
verschwendeten ihre Energien in einfältigen Bürointrigen,
besuchten Fitness-Studios oder Bräunungsagenturen und benahmen
sich dort ziemlich penetrant, verbrachten viele Stunden mit ihren
vertrackten Modell-Eisenbahnen, die sie in Wohngemächern und
Hobbyräumen installiert hatten - oder mit anderen, nicht minder
kindlichen Vergnügungen. Selbst die Lüsternheit der
Männer bewegte sich zumeist auf sehr kindlichem, simplem,
vordergründigem Niveau und ließ wenig Phantasie, wenig
Kreativität erkennen. Es war nicht ihre zeitweilige groteske
Sexbesessenheit, die Lucy verstörte, sondern die
Einfallslosigkeit, der Mangel an spielerisch-jonglierenden Elementen,
die fehlende Bereitschaft, sich den Launen des Augenblicks zu
überlassen. Sie hatten wenig Sinn für
"Überraschungsspiele". Wahrscheinlich würde auch der Amtsrat
keine Ausnahme sein: Eine graue, langweilige Beamtenexistenz, ein
Mensch, der nach Büroschluß in den Straßen herumirrte,
auf der Suche nach der verlorenen Zeit oder der nächsten Kneipe,
wie Leopold Bloom, der dabei über ein Ausweisetui stolperte und
vor lauter Ordnungsliebe nicht umhin konnte, es an sich zu bringen und
seiner Besitzerin auszufolgen. Bei Lucys Anblick würde dieser
verstaubte Amtsrat dann womöglich in irgendwelche peinlichen
Verzückungs-Zustände geraten, ihr in penetranter Art den Hof
machen und sie in den kommenden Wochen wiederholt bedrängen - ihre
Telefonnummer hatte er ja zu allem Unglück schon. Ungemach schien
programmiert. Also verzichtete Lucy darauf, sich herauszuputzen, wozu
auch, warf nur ein unscheinbares Jäckchen über,
schlüpfte in zeitlose Schnürschuhe, die nicht ganz sauber
waren und machte sich ohne das Haar zu kämmen und ohne
prüfenden Blick in den Spiegel auf den Weg in das beengte
Restaurant, in welchem die Übergabe ihres Etuis stattfinden
sollte. Womöglich erwartete der Amtsrat noch Dankesbezeugungen.
Beim Gedanken daran wurde ihr fast übel. Aber sie war bereits zu
sehr in Eile, um sich dieser Übelkeits-Vorstellung voll hingeben
zu können.
Klossowski war natürlich schon längst da, pünktlicher
Mensch wie er war. Er hatte sich inzwischen häuslich eingerichtet,
hatte Zigarettenschachtel und Streichholzbriefchen ausgepackt, den
Terminplaner und ein paar sonstige Requisiten vor sich ausgebreitet, so
daß kaum mehr Platz war für das Glas Bardolino, das zur
Hälfte geleert war. Lucy erkannte ihn sofort, obwohl sie eine ganz
andere Vorstellung gehabt hatte. Es war kein feister, unförmiger
Seehund, sondern eine hohe, leicht dämonische Erscheinung, selbst
im Sitzen war das zu ersehen. Sie schwebte auf ihn zu, streckte ihm
relativ freundlich, aber nicht sonderlich damenhaft die Hand entgegen
und sagte: "Lucy Westinghouse. In gewisser Weise bin ich Ihnen ja nicht
mehr ganz unbekannt." - Der Amtsrat lächelte - und sein
Lächeln hatte etwas Lauerndes, Verschlagenes, raubtier-like. Lucy
fühlte gewisse Alarmglocken anschlagen, innerlich, und placierte
sich in dem nicht wirklich bequemen Stuhl, während der Amtsrat
sich anschickte, den Tisch freizumachen und seine Requisiten anderswo
abzulegen. Er händigte Lucy das Etui samt Inhalt aus. Sie grinste
vergnügt: "Wo haben Sie es gefunden? Ich meine: Wo genau?" Der
Amtsrat erklärte sehr präzis die näheren
Umstände, ungefähr in den selben Worten, derer er sich zur
Formulierung eines Aktenvermerks bedient hätte: Wie er sich
angeschickt hatte, die Lenaugasse zu queren, schräg vis à
vis vom Cafe Eyeless, als er auf das selbe zusteuerte, um dort
Milgram-Strudel zu verzehren. - Indessen fiel Lucys Blick auf die Weste
des Amtsrats, auf die prachtvolle Uhrkette, auf die bemerkenswert
saubere Schuhspitze, die unter dem Tisch hervorragte, auf die nicht
minder sauberen Fingernägel, die aparte Erscheinung. Er mochte um
die 45 sein, genau war das schwer zu sagen. Die folgende Konversation
entwickelte sich in der Art des Autodrom-Fahrens und erinnerte Lucy an
ihre Jugend: Recht chaotisch, man rumste dauernd gegen irgend etwas
oder irgend jemand, aber genau das schien den Reiz auszumachen. Nach
kaum zehn Minuten sprach der Amtsrat von seinen Besuchen in
Antiquariaten, von der Bikarbonat-Zahnpaste, die er kürzlich
erworben hatte und die ihm gar nicht zusage. Und daß er vor ein
paar Wochen eine Konferenz in Montreal besucht habe, eine Stadt, in der
es ausgedehnte unterirdische Straßenzüge und Stadtteile
gebe, wo man sich dem eisigen Wind entziehen könne, der durch die
Straßen wehe. Und Klossowski erzählte von seinem aus Umbrien
stammenden Onkel Giovanni, der mit mercerisierter Baumwolle gehandelt
und gute Handelsbeziehungen nach Südamerika unterhalten hatte.
Lucy fixierte seit längerem das eigenartige Streichholzbriefchen,
das neben dem Silbertablett lag. Ohne Brille gelang es ihr nicht, den
Schriftzug zu entziffern. Später sollte sie bemerken, daß es
aus einem argentinischen Hotel stammte und sie fragte sich, ob der
Amtsrat des öfteren Fernreisen unternahm.
Lucy war gesprächiger als sonst. Eigentlich war sie gekommen, um
das Etui in Empfang zu nehmen, einen Martini rosso zu trinken und sich
dann rasch zu empfehlen. Sie schätzte es - anders als in
früheren, wilderen Jahren - nicht sehr, den späten Abend
außer Haus zu verbringen. Aber kaum eine halbe Stunde war
vergangen, als sie von ihrer Jugend in einer Stadt erzählte, deren
Wahrzeichen ein Uhrturm war, von ihrem Vater und dessen morgendlichen
Wutanfällen beim Frühstück und wie sie ihn provoziert
hatte durch vorsätzliche Erzeugung von Honigflecken auf dem
Tischtuch. Sie verschwieg auch nicht, daß es in dem Haus, in
welchem sie zur Zeit wohnte, ein paar sehr merkwürdige Leute gab,
die ihr unheimlich waren. Neugier leuchtete in den Augen des Amtsrates
auf. Lucy befriedigte diese Neugier und erzählte von der sehr
alten, hinfälligen Frau im unteren Stockwerk, die ihr ab und zu im
Treppenhaus begegne, mit dem Zeigefinger der rechten Hand
hexenmäßige Lock-Bewegungen ausführe und dabei die
Worte: "Ich hab wieder Suppe gekocht!" ausspreche. Einmal war Lucy der
Alten in ihre Wohnung gefolgt und hatte dort geduldet, daß ihr
ein Teller mit einigen Löffeln einer ziemlich salzigen Suppe
vorgesetzt wurde, auch war der Teller nicht wirklich sauber gewesen. Es
hatte Lucy gegraust, aber sie hatte diesen Kelch bis zur Neige geleert.
Und es gab noch eine andere ältliche Dame, die mit magyarischem
Akzent spreche, mehrmals täglich die Türklinken mit einem
Tuch abwische, um sie derart von gefährlichen Bakterien zu
säubern und so manchen Vormittag in der Nähe der
Postkästchen verbringe, auf den Briefträger lauernd. Wenn man
dann den Hausflur betrete, sage sie mit klagendem Ton und
Marika-Rökk-Akzent: "Postmeister ist noch nicht gekommen..."
Lucy hatte inzwischen ein Glas Wein bestellt, der Amtsrat war ihrem
Beispiel gefolgt und fragte jetzt, ob sie denn zu speisen wünsche
- auf jeden Fall sei sie gern eingeladen. Lucy akzeptierte und
Klossowski winkte auf unnachahmlich elegante Art den Gar(on herbei.
Man speiste, der Amtsrat mit besten Manieren, Lucy mit erstaunlichem
Appetit, wenn man bedenkt, daß sie zuhause nur ein dürftig
belegtes Brötchen oder einen marinierten Hering zu Abend essen
wollte, dazu ein Glas minder prickelndes Mineralwasser. Zwischen den
Bissen machte Lucy ein paar Andeutungen über ihre derzeitigen
Geschäfte. Sie beriet eine vormals staatstragende, zuletzt aber
stark abbauende
konservative Partei, die ihre internen Kommunikationsstrukturen
verbessern oder gar erneuern wollte, was kein leichtes Unterfangen war,
weil sich Konservative nun einmal ungern von der Notwendigkeit des
Experimentierens und der Innovation überzeugen ließen. Sie
schlug sich mit Managern und Kommerzialräten herum, die ihre Ziele
aus den Augen verloren hatten und jetzt aufs Abscheulichste
regredierten und in die Verhaltensweisen ihrer frühen Kindheit
verfielen, was Lucy durch ihre gruppendynamischen Mätzchen
zusätzlich förderte. Lucy fragte den Amtsrat, ob er schon
jemals ein Fitness-Studio betreten habe. Klossowski, erstaunt über
die direkte, ziemlich indiskrete Frage, verneinte und setzte wieder
seinen lauernden Raubtierblick auf, vergaß aber zu kontern. Lucy
setzte nach, fragte jetzt nach Modell-Eisenbahnen. Klossowski verneinte
abermals, aber sein Ton ließ doch vermuten, daß er
Modell-Eisenbahnen nicht an sich abwegig fand. Lucy sah ausgesprochen
mißtrauisch drein. "Sie haben ganz sicher keine Modell-Eisenbahn,
bei sich zu Hause, im Wohnzimmer, oder sonstwo?" Klossowski war
irritiert. Die junge Frau hatte dem Anschein nach erhebliche Bedenken
gegen Modell-Eisenbahnen. Warum dies?
Klossowski kam auf seinen Vorgesetzten zu sprechen, den Senatsrat
Jarecki - und er äußerte sich in einem bitteren, die Grenze
zum Sarkasmus streifenden Ton. Jarecki, der Chef, besitze angeblich
eine gigantische Modell-Eisenbahnanlage, die fast eine ganze Etage des
von ihm bewohnten Reihenhauses ausfülle, mit zahllosen Gleisen,
Weichen, Stationsgebäuden, Tunneln, Ampelanlagen und
Transformatoren, alles von Märklin. Andere Mitarbeiter des
Magistrats würden ihn ab und zu besuchen - und sie
verbrächten dann Stunden mit dem Betrachten der Eisenbahn, mit
komplizierten Rangiermanövern, mit der Simulation von
Entgleisungen und der Inspektion von Dampflokomotiven und mehr-achsigen
Güterwaggons. Lucy nahm zur Kenntnis, daß der Amtsrat in
relativ elaborierter, sachkundiger Art über Modell-Eisenbahnen
sprechen konnte. Vielleicht hat er ja als Knabe eine besessen, und es
ist nur die alte Faszination, die durchleuchtet, dachte sie, den
Amtsrat in gewisser Weise vor ihrem Verdacht in Schutz nehmend.
Klossowski hatte befriedigt bemerkt, daß Lucy in sehr handfester,
praktischer Weise gespeist und getrunken hatte, es war kein
symbolischer Akt gewesen, sondern eine sehr reale Sache. Auf den
Tellern war nichts zurück geblieben, von den Spuren der
Carbonara-Sauce abgesehen. Demonstrativ säuberte Lucy die Lippen
mit der Papierserviette, faltete dieselbe zusammen und placierte sie
auf dem Teller. Sie erinnert an eine der jungen Frauengestalten in
Botticellis Primavera-Allegorie, dachte der Amtsrat, oder gleicht sie
mehr der Frau auf diesem Kentauren-Bildnis? Pallas Athene und der
Kentaur? Er konnte sich nicht so recht entsinnen und beklagte sein
schlechtes Gedächtnis in solchen Dingen. Der Gar(on nahte sich,
fragte: "Hat gut geschmeckt?", und entfernte sich wieder, unter
Mitnahme der nicht mehr benötigten Teller und Gläser.
Klossowski ersuchte Lucy, seine Unhöflichkeit doch zu verzeihen,
doch liege morgen ein ungewöhnlich schwieriger Arbeitstag vor ihm,
mit einigen dringlichen Sofort-Entscheidungen, und er habe noch einen
weiten Weg vor sich, er wohne ja gewissermaßen am andern Ende der
Stadt. Das war merkwürdig gesagt, wo man sich doch gerade ziemlich
im Zentrum befand. Lucy bedankte sich höflich für das Etui
und die Einladung zu diesem angenehmen Abendessen - und der Amtsrat
meinte, vielleicht ließe sich die so ersprießliche
Konversation zu einem späteren, günstigeren Zeitpunkt
fortsetzen. Zu gern hätte er noch mehr über die
Suppen-Kochende Alte und Lucys Problem mit Fitness-Studios und
Modell-Eisenbahnen in Erfahrung gebracht. Lucy war nicht abgeneigt, den
gar nicht unförmigen, kosmopolitischen, leicht diabolischen,
durchaus nicht geistlosen Seehund wiederzusehen. Ein weiteres Treffen
wurde, nicht allzu verbindlich, aber doch ins Auge gefaßt. Sie
verließen das kleine, erlesene Restaurant, nachdem Klossowski die
Rechnung beglichen und dem Gar(on ein beachtliches Trinkgeld
überlassen hatte. Ihre Wege trennten sich ungefähr dort, wo
die Spitalgasse auf die Laudongasse trifft, welche Lucy jetzt mit
zielstrebigen Schritten stadtauswärts davoneilte. Der Amtsrat sah
ihr nach, leicht verwirrt. Er winkte einem gerade vorbeirollenden Taxi
und gab zu verstehen, er wünsche in den dritten Bezirk gefahren zu
werden. Der Kärntner Akzent war dabei kaum zu überhören.
5. Glühbirnen
Nur wenige Minuten später erreichte Lucy ihr Wohnhaus und
mußte zu ihrem Entsetzen feststellen, daß die Beleuchtung
im Hausflur bzw. Treppenhaus anscheinend defekt war. So sehr sie den
Schalter drückte, es blieb finster. Das
unverhältnismäßige Entsetzen rührte daher,
daß ihr die näheren Umstände eines Verbrechens noch gut
erinnerlich waren, das vor nunmehr fast 20 Jahren die
Öffentlichkeit beunruhigt hatte und ihres Wissens nie
aufgeklärt worden war. Damals war in den Morgenstunden des
Karfreitags ein junges Mädchen aus drei Stichwunden blutend und
nur mehr schwach röchelnd vor einem Haus in der Inneren Stadt
aufgefunden worden und wenig später, ohne noch irgendwelche
Angaben machen zu können, an den durch Messerstiche
zugefügten Verletzungen gestorben. Polizeiliche Ermittlungen
hatten schon bald ergeben, daß der Mörder nach einem
"teuflischen Plan" vorgegangen war und seine Untat vorbereitet hatte,
indem er mehrere Glühbirnen, welche sonst den Hausflur
erleuchteten, aus den Fassungen geschraubt hatte. Auf diese Weise war
es ihm gelungen, sich selbst zu verbergen und seinem Opfer im Finstern
aufzulauern. In den Zeitungen war ausführlich und in einer
gelungenen Melange aus Fakten und Spekulationen über den Hergang
der Dinge berichtet worden, soweit dieselben sich aus den vorhandenen
Spuren und den Aussagen von Zeugen rekonstruieren ließen. Der
"Karfreitagmörder", so war zu lesen, war dem Anschein nach durch
einen unterirdischen Gang geflüchtet, der den Keller des Hauses
Maysedergasse 1 (das "Mordhaus") mit verschiedenen anderen
Gebäuden der Umgebung verbindet und unter anderem zur Oper und ins
Hotel Sacher führt, weshalb die Ermittlungen sich auch auf diese
Orte erstreckten. Spuren vom Mörder waren in den Gängen nicht
entdeckt worden, doch konnte er nur auf diesem Weg entkommen sein.
Das Motiv der Bluttat blieb im Dunkeln. Christine S., wie die Ermordete
geheißen hatte, schien der Inbegriff eines biederen, allseits
beliebten und geschätzten jungen Mädchens, war der ganze
Stolz ihrer nunmehr gebrochenen und verzweifelten Eltern gewesen und
hatte nie zu irgendeiner Beunruhigung Anlaß geboten. Einen Freund
hatte sie anscheinend nicht gehabt und ihre ganze Freizeit verbrachte
sie damit, ihre eigene Garderobe zu schneidern, wobei sie überaus
geschickt war. Seit einigen Monaten war sie als Lehrling in dem
distinguierten Modehaus "Zur englischen Flotte", in der Maysedergasse 1
etabliert, beschäftigt, wo sie an jenem verhängnisvollen
Karfreitag wie auch sonst ihren Dienst antreten wollte, nachdem sie
zuvor in einem Geschäft in der Krugerstraße noch eine
Liptauersemmel gekauft hatte, die sie tagsüber zu verzehren
gedachte... "Im August hätte sie ihren 17. Geburtstag gefeiert",
sagten die entsetzten Kolleginnen. "Sie wurde von uns wegen ihrer guten
Figur, ihrer schönen Augen und ihrer samtenen dunklen Haare
bewundert. Sie wirkte nie ungepflegt."
Der unbekannte Mörder, der es sichtlich nicht auf die
Liptauersemmel abgesehen hatte, mußte blitzschnell zugeschlagen
haben, das Herausschrauben der Glühbirnen im Flur war anscheinend
äußerst professionell und gekonnt erfolgt. "Die Bestie
lauerte vermutlich schon tagelang auf das Opfer und schlug am
Karfreitag zu, als die 16-Jährige bei orkanartigem Wind und
heftigem Schneeregen das Haus in der Maysedergasse betrat", schrieb
eine Zeitung, die besonders ausführlich von der Bluttat berichtete
und den Lesern auch einige Fotos vom Tatort und den dort
zurückgebliebenen Requisiten zu bieten hatte.
Lucy hatte von dem Verbrechen gelesen, als sie gerade 14 Jahre alt war
- und in ihren eigenartigen, morbiden Phantasien hatte sie sich die
Szene des öfteren ausgemalt, so wie sie sich ein oder zwei Jahre
vorher manchmal "aus-gemalt" hatte, wie es im Fegefeuer sein
würde, wenn man von irgendwelchen bösartigen Unterteufeln
gequält wurde. Die unwirtliche Witterung an diesem Morgen, den
Erwerb der Liptauersemmel, das Betreten des Hausflurs, das
plötzliche Bemerken, daß dort nicht wie sonst
wohlgefaßte Glühbirnen den Weg erleuchten, und im
nächsten Augenblick schon die Begegnung mit dem nicht erkennbaren
Mörder, der in der Finsternis mehrmals zusticht und sogleich die
Flucht ergreift, durch den unterirdischen Gang. Als Lucy jetzt bemerken
mußte, daß die Gangbeleuchtung nicht funktionierte, entsann
sie sich plötzlich der alten Geschichte und befürchtete, es
könne der Karfreitagmörder sich im Treppenhaus verborgen
halten und dort auf sie lauern und sie verspürte den Impuls
umzukehren, Alarm zu schlagen oder dergleichen. Im Treppenhaus war
nichts zu hören, nichts zu sehen. Doch sie bemeisterte ihren
Schrecken, bewies Ich-Stärke und tastete sich nach kurzer
Realitätsprüfung zum Stiegenaufgang. Reichlich beklommen und
aufgeregt tastete sie sich langsam voran, stets die Attacke des
Mörders oder die Messerstiche erwartend. Sie brauchte Minuten, bis
sie den ersten Halbstock erreicht hatte. Vom Karfreitagmörder war
vorerst keine Spur. Im ersten Stock brannte noch Licht in der Wohnung
der Alten, die stets Suppe kochte, und Lucy drang weiter vor, in etwas
geduckter und kampfbereiter Haltung, zwischen Scylla und Charybdis. Im
Dunkel harrte der Mörder; in der Wohnung der Alten die salzige
Suppe. Unversehrt erreichte Lucy den zweiten Stock und stand Sekunden
später vor ihrer Wohnungstür. Sie schauderte, als in eben
jenem Augenblick, wo sie sich anschickte, das Schloß zu sperren,
ein Ächzen ertönte, das anscheinend von einer schlecht
geölten Tür im oberen Stockwerk rührte. Endlich war sie
in Sicherheit. Sie ließ sich erschöpft aufs Sofa sinken,
aber nur um gleich wieder aufzuspringen und sich in der Küche ein
Glas Grappa einzugießen, das sie mit immer noch bebenden Fingern
leerte, denn ihr war ganz schlecht...
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