Gerhard Hanak

Pyramiden

     


1. Amtsrat Klossowski

Es war Freitag, der 22. April 2000, exakt 14 Uhr, und der Amtsrat Klossowski stand direkt neben seinem geräumigen Schreibtisch, in der dritten Etage des Amtsgebäudes hinter dem Rathaus, und blickte versonnen und etwas abwesend hinunter auf die Straße, wo auf dem Asphalt kaum mehr etwas von den Regenfällen des Vormittags zu bemerken war. Es waren unergiebige Regenschauer gewesen, wie sie in dieser Jahreszeit nicht ungewöhnlich waren. An der Tür pochte es, ein schwaches, verhaltenes, klebriges Pochen und ohne daß der Amtsrat irgendeine Aufforderung ausgesprochen hätte, öffnete sich jetzt die Tür und der Amtsgehilfe Klutz trat ein, murmelte eine undeutliche Grußformel, nahte sich dem Schreibtisch und überreichte dem Amtsrat ein umfängliches Papierkonvolut. "Der Forschungsbericht, der für Sie abgegeben wurde, von einer Dame, aber Sie waren gerade bei Tisch und sie wollte nicht warten", sagte Klutz, mit einem leicht vorwurfsvollen Tonfall, wie es schien, wuchtete sich in der Art eines untrainierten Kugelstoßers auf dem Absatz herum und schickte sich an, das geräumige Zimmer, in welchem Klossowski inmitten von Akten, Plänen und Bildbänden von ägyptischen Nekropolen amtierte, wieder zu verlassen, mit leicht hinkenden Schritten, wie man sie oft an Amtsgehilfen beobachten kann. "Wünsche klare Sicht - und ein erholsames Wochenende", fügte Klutz noch hinzu, die klauenartigen Finger schon um die Türklinke geschlossen, und Klossowski fragte sich, ob nicht etwas Aufsässiges in seinem Ton zu bemerken war. "Gleichfalls, Klutz", erwiderte der Amtsrat, immer noch etwas zerstreut, jetzt aber nicht mehr aus dem Fenster blickend, sondern auf die Papiere, die in einer sogenannten Klarsichthülle steckten. "Zopf Calligraphic", dachte der Amtsrat mit einem leichten Staunen. "Zuletzt kamen die Berichte doch meist in Avantgarde oder Gothic...", murmelte er, während die Tür sich gerade geräuschvoll hinter Klutz schloß.Einen Augenblick erwog er, den Bericht in der Zwischenablage zu deponieren, schloß ihn dann aber doch im Geheimfach seines Schreibtischs ein. Es war sicherer so. Man konnte schließlich nicht wissen, ob der Report brisante Materialien enthielt - und die Vorstellung, daß Daten, welche die Öffentlichkeit beunruhigen konnten, so wie damals die Konzepte für Süßenbrunn, von unbefugten Personen eingesehen wurden, schien ihm grauenhaft. Erst kürzlich war Klossowski einmal aus dem Schlaf hochgeschreckt, nicht im Büro natürlich, sondern zu Hause, wo er sich zuweilen stundenlang unruhig auf seinem Lager wälzte... Er hatte geträumt, er betrete nach Mitternacht sein Büro, um wichtige Unterlagen zu holen, die er dort vergessen hatte - und schon auf dem Korridor hatte er den verdächtigen Lichtschein aus seinem Zimmer bemerkt, der ihn prompt in Panik versetzte. Wer mochte sich nachts in seinen Gemächern aufhalten? Oder hatte bloß die Putzfrau verabsäumt, das Licht auszumachen? Er nahte sich mit vorsichtigen, geräusch-vermeidenden Schritten und als er vor der Tür angelangt war, hörte er zwei Stimmen. Die eine war untrüglich die des Amtsgehilfen Klutz, die andere die einer Frau. Im Traum hatte Klossowski auf eine Art gehandelt, wie es ihm im wirklichen Leben nie möglich gewesen wäre: Plötzlich hatte er ein Terzerol in der Hand, scharf geladen, riß in einer Sofort-Entscheidung die Tür auf und überraschte die beiden Personen, die sich unbefugt an seinem Schreibtisch zu schaffen gemacht hatten und gerade im Begriff waren, die Schubladen zu durchwühlen. Es war leicht zu erkennen, daß sie beabsichtigten, Mikrofilmaufnahmen von einigen Kartogrammen und Tabellen herzustellen, die der Amtsrat vor wenigen Stunden dort eingeschlossen hatte: Es waren Planungsunterlagen für die Stadterweiterungsgebiete an der Peripherie. Die Kartogramme zeigten die Strukturdaten der unmittelbar angrenzenden alten Ortskerne. Einige Konzepte bezüglich der in diesen Stadtvierteln vorbereiteten Straßenrückbauten, die den dortigen Individualverkehr endgültig zum Erliegen bringen sollten, waren den beiden Eindringlingen schon in die Hände gefallen und lagen jetzt achtlos verstreut auf dem bordeauxfarbenen Teppich, sehr zum Mißfallen Klossowskis, der solche Unordnung gar nicht schätzte... 
[...]
Von den privaten Leidenschaften des Klutz wußte Klossowski so gut wie nichts, vielleicht gab es auch keine. Schwer vorstellbar war in jedem Fall, daß vampyrhafte, oder gar dämonische Frauen irgendeine Rolle im Leben des Amtsgehilfen spielten, der Tag für Tag in einem blauen, abgenützten Arbeitsmantel erschien und die knapp bemessene Mittagspause in der Kantine verbrachte, wo er meist allein an einem peripheren Tisch saß, ein veritabler Eigen-Brötler, sich mit einem Imbiß begnügend, zu dem er ein Glas Fanta trank. Klossowski selbst besuchte diese Kantine, in der vor allem die Hausarbeiter und Schreibkräfte verkehrten, nur selten. Meist tafelte er anderswo, doch wenn er sich unter argem Zeitdruck befand und eine reguläre Mittagspause nicht in Betracht kam, betrat er die Kantine, um von dort ein Coca Cola zu holen oder einen Schoko-Riegel... Aber es war nicht besonders sinnvoll, an einem Freitag nachmittag über Klutz und dessen private Angelegenheiten nachzudenken. Klossowski zog die prachtvolle Uhr aus der Westentasche. Das Zifferblatt zeigte Viertel nach zwei. Es war eine sehr präzise Uhr. An diesem Tag war der Amtsrat überaus elegant und vornehm gekleidet, wie sonst eigentlich nur zu Zeiten, wo Foto-Termine im Büro des Stadtrats anberaumt waren oder wenn andere öffentliche Empfänge oder Sitzungen im Wappen-Saal, im Beisein des Bürgermeisters und seiner singenden Gemahlin, stattfanden. Wenn der Bürgermeister chaotisch-polternde Ansprachen hielt und seine Gemahlin Evergreens intonierte, a capella oder von einem zufällig anwesenden Pianisten begleitet, spielte Klossowski leicht genervt mit seiner Uhrkette, nestelte an der Westentasche herum, erforschte deren innere Nähte und vollzog andere sogenannte Übersprungshandlungen, die ihm das Transzendieren aktuellen Ungemachs erlaubten. Man hätte sagen können: Er kannte die Auftritte des Bürgermeisters und der Soubrette wie seine Westentasche... Klossowski bevorzugte grundsätzlich ein dunkles Blau. Seine Sakkos, seine Westen, seine Übergangsmäntel, seine Baskenmütze waren in diesem Farbton gehalten, die Hose meist grau, mit perfekter Bügelfalte. Kaum merklich legte sich jetzt die etwas hohe Stirn des Amtsrats in Falten, der immer noch stehend an seinem Schreibtisch verharrte. - Das war es auch, was den Amtsgehilfen Klutz manchmal erstaunte: daß Klossowski kaum jemals an seinem Schreibtisch saß, wie andere Amtsräte, die meist in irgendwelchen Papieren kramten oder mit grämlicher Stimme telefonierten, wenn man überraschend eintrat. Klossowski aber stand fast immer hoch aufgerichtet, sinnend neben dem Schreibtisch, manchmal aus dem Fenster blickend, gelegentlich auch eines der Kartogramme fixierend oder den an die Wand gespindelten Stadtplan, auf welchem die statistischen Zählgebiete und ihre Grenzen verzeichnet waren. Dann glich er einem Feldherren, der sich anschickt, weitere Regimenter in die Schlacht zu werfen oder raffinierte Pläne zur Einkesselung der feindlichen Truppen ausheckt und er murmelte irgendwelche Zahlenkombinationen, die dem Laien wenig verrieten, für den Kenner aber fatal sein mochten, zum Beispiel siebzehn - eins, oder zwölf - vier. Einmal hatte Klutz die Zahlen, die er den Amtsrat hatte murmeln hören, im Lotto gesetzt, mit bescheidenem Erfolg. Klutz hatte sie in seinem abgegriffenen Kalender notiert. Für ihn war es schwer, aus Klossowski schlau zu werden, aber er ahnte, daß um den Amtsrat bedeutende Dinge von erheblicher Tragweite vorgingen. In der Kantine hatte Klutz ein Gespräch mitangehört, das am Nebentisch von zwei jungen Frauen geführt und wo erwähnt wurde, daß das Pyramiden-Projekt jetzt bei Klossowski ressortiere. Das war in einem geheimnisvoll-raunenden Ton gesagt worden und klang so, als wäre der Amtsrat eine zentrale Figur in einem kosmischen Ränkespiel, einer kolossalen Verschwörung, von deren eigentlicher Dimension Klutz nur sehr ungefähre Vorstellungen hatte. Aber wie gesagt: Der Amtsrat schien kaum zu sitzen, auch kaum zu telefonieren. Oft stand er einfach da, in der Art der Pharaonen, und blickte dabei in die Ferne. Mit wenigen, wohlüberlegten Handgriffen erzeugte Klossowski jetzt, kurz nach viertel drei, die erforderliche Ordnung auf seinem Schreibtisch, packte ein paar dünne Schriftstücke in sein Aktenköfferchen und verließ nach einem letzten, prüfenden Blick die Stätte seines Wirkens. Niemand begegnete ihm in den etwas labyrinthischen Gängen, die ins Treppenhaus führten. Das war gut so. In den Korridoren waren die Wände mit historischen Stadtplänen, Kartogrammen und großformatigen Fotos dekoriert, die aus der sogenannten Vogel-Perspektive aufgenommen waren und verschiedene markante Ausschnitte des Stadtbilds zeigten. Autobahnkreuze und Hypertangenten, den Donaukanal oder Wohngebiete mit extrem dichter Bebauung und kleinteiliger Parzellierung, wo sich Dach an Dach drängte. Im Treppenhaus setzte sich Klossowski die dunkle Baskenmütze leicht verrutscht aufs vorzeitig angegraute Haupt, was ihm einen verwegenen Ausdruck verlieh; sein ebenfalls angegrauter, dünner Schnurrbart, der ihn in Verbindung mit der etwas hohen Stirn manchmal etwas seehund-artig erscheinen ließ, zuckte unternehmungslustig, denn es war Freitag und die dienstlichen Bürden und Düsternisse in der Planungsabteilung des Magistrats lagen einmal mehr hinter ihm. Er passierte den Glaskasten, in welchem sich der Portier befand, der kaum von seiner Zeitung aufblickte und dessen Wangen wie aufgeblasen wirkten, in der Art eines bebrillten Putto, wohl weil er gerade an einem Schinken-Brot kaute und den Mund zu voll genommen hatte. Klossowski trat hinaus ans Tageslicht. Über den neugotischen Fassaden der umliegenden Häuser drangen ein paar Sonnenstrahlen durch die blaugrauen Wolken, die in östlicher Richtung davonzogen, in beachtlicher Geschwindigkeit, letzte Überreste eines atlantischen Tiefdruckgebiets. Der elegante Amtsrat begab sich mit weit ausholenden, gleichwohl abgezirkelten Schritten, wie sie einem Mitarbeiter der Planungsabteilung gut anstanden, zu seinem vorzüglichen, ökologisch unbedenklichen Automobil, das er zwei Häuserblocks weiter geparkt hatte, vor einer Apotheke.

2. Fondamente Nuove

Er begab sich auf die Reise, die er ein oder zweimal im Monat zu unternehmen pflegte und die ihn nach Venedig führte, wo er ein Appartement in einem Haus besaß, das früher einmal ein nicht wirklich prunkvoller venezianischer Palazzo gewesen und zeitweise von einem minder bedeutenden Adelsgeschlecht der Lagunenstadt bewohnt worden war. Ein Onkel des Amtsrates Klossowski, aus Umbrien gebürtig, genauer: aus der Nähe von Orvieto stammend, war nämlich vor drei oder vier Jahren verstorben, unter etwas unklaren Umständen, die auch von der Gerichtsmedizin nicht wirklich erhellt werden konnten, was möglicherweise auch die Abwicklung der Verlassenschaft zu einer mühseligen Angelegenheit gemacht hatte, die mehrere Notare und Gerichtsabteilungen zwei Jahre lang beschäftigt hatte. (In diesem Zeitraum waren auch drei Kanzleimitarbeiter der befaßten Notare verstorben, was der zügigen Abwicklung nicht förderlich gewesen war.) Als sich die Nebel des Erbrechts gelichtet hatten und die Serie von Todesfällen endlich abgerissen war, wurde zunehmend deutlich, daß der Onkel, der Giovanni geheißen, in seiner aktiven Zeit als Kaufmann gute Geschäfte gemacht und ein solides Leben geführt hatte, seinem Neffen, dem Amtsrat, mit dem er zuletzt kaum noch Kontakt gehabt hatte, das Appartement in Venedig samt der dort vorhandenen Möblierung und Gerätschaften vermacht hatte. Dies war dem Amtsrat vor inzwischen einem Jahr mitgeteilt worden, in einem komplizierten, schwer verständlichen Schreiben eines Notars aus Treviso, wo der Onkel seinen Hauptwohnsitz gehabt hatte. Klossowski hatte aufgrund der besonderen Umstände drei außerordentliche Urlaubstage genommen, zur Erledigung seiner venezianischen Angelegenheit, wie er sich ausgedrückt hatte, nach Rücksprache mit dem Senatsrat Jarecki, dieser grauen, wenngleich etwas beschränkten Eminenz, deren eigentliche Tätigkeit seit mehreren Jahren anscheinend nur mehr darin bestand, überaus schwungvolle Unterschriften unter wichtige Aktenstücke zu setzen und außerordentliche Urlaubstage zu genehmigen, die aber sonst kaum in Erscheinung trat, so daß viele Mitarbeiter anderer kommunaler Dienststellen insgeheim glaubten, Jarecki sei schon im Ruhestand oder gar verstorben. Der Amtsrat Klossowski hatte damals, Anfang Mai 1999, in etwas zwiespältiger Gemütsverfassung Venedig besucht, sich dort im Hotel Atlantide einquartiert, in der Lista di Spagna, nicht weit vom Bahnhof, und am folgenden Tag das Appartement besichtigt, das ihm als Erbe zugefallen war. Für venezianische Verhältnisse war es ein recht durchschnittliches Appartement, bestehend aus zwei mittelgroßen Zimmern und einer engen, düsteren Kammer, nebst einer geräumigen Küche mit modernster Einrichtung und den obligaten Nebenräumen. Die beiden Zimmer waren mit alten düsteren Möbeln, schweren hölzernen Unsinnigkeiten vollgestellt; es roch muffig, denn schon seit Monaten war nicht mehr richtig gelüftet worden. Staubschichten lagen auf Schränken, Kommoden mit gedrechselten Beinen, restaurierungsbedürftigen Tischchen; ein massives Sofa dominierte den living room. Die Tapeten schienen in schlechtem Zustand. Klossowski erschauderte. Er schätzte mehr die moderneren, funktionaleren Formen des Designs, er liebte überhaupt helle, klar strukturierte Räume, in denen man herumgehen konnte und nicht nach zwei bis drei Schritten an irgendein Hindernis stieß, das eine Richtungsänderung erforderte oder einen abrupten Still-Stand. Er bahnte sich den Weg zum Fenster, öffnete die schweren grünen Läden. Ein paar Sonnenstrahlen ließen das Ambiente um Nuancen freundlicher aussehen. Die alte Dame, welche ihm den Schlüssel ausgehändigt hatte und im Korridor verharrte, machte ein paar unbestimmt zeigende Handbewegungen, die wohl bedeuten sollten: So ist es eben hier, der Herr wird darüber nachdenken müssen, wie er sich einrichtet. Klossowski sprach vorerst nur wenig italienisch. Was er gut konnte war, sich in einem Restaurant oder einer Trattoria des gehobnen Standards verständlich zu machen. Auch die Hinweistafeln auf Bahnhöfen oder im übrigen Stadtbild waren ihm vertraut. Ein venezianischer Listino Prezzi barg für ihn kein Geheimnis. Risotto alle vongole, insalata mista, binario otto, andante e ritorno, come previsto, lotta continua... In den Abendstunden erkundete Klossowski die nähere Umgebung. Es war der Stadtteil von Venedig, der an den Fondamente Nuove liegt, nicht weit von der Jesuitenkirche, keine wirklich repräsentative Gegend, eher die Hinterhöfe der Stadt, abseits der Touristenströme, wo vor allem die mit krächzendem Singsang vorgebrachten Zurufe der Transportarbeiter zu hören waren. Zwei Blocks weiter befand sich ein Elektroladen, wo TV-Apparate, Voodoorecorder und CD-Players verkauft wurden. Das überfüllte Schaufenster war mit Karnevalsmasken dekoriert, die wohl nicht zum Verkauf bestimmt waren. Eine davon sagte Klossowski über die Maßen zu. Es war die in Gold und Schwarz gehaltene Schnabelmaske des dottore della peste, der vor ein paar hundert Jahren, auf Stelzen ausschreitend, die Miasmen der Lagunenstadt durchwandert hatte. Vielleicht gelingt es mir, dachte Klossowski, den Inhaber des Ladens dazu zu bewegen, mir die Maske zu einem akzeptablen Preis zu überlassen. Die Lira hatte in den vergangenen Jahren teils dramatische Kursstürze hinnehmen müssen, bedingt durch innenpolitische Unzukömmlichkeiten, die zeitweise auf Unregierbarkeit des Landes hinausgelaufen waren, aber zuletzt hatte sich die Landeswährung wieder halbwegs stabilisiert, dachte Klossowski. Immer noch war es möglich, in Italien einigermaßen wohlfeil und unbeschwert zu leben. In den Abendstunden war es doch noch etwas zu kühl, um an den Tischen der Straßencafes und Bars sich niederzulassen. Klossowski schauderte. Er hatte die Baskenmütze im Hotel Atlantide zurückgelassen. Morgen würde er erste Anweisungen betreffend den Abtransport von Möbelstücken erteilen. Genau genommen würde er auch entscheiden müssen, ob er sein Erbe überhaupt antreten wolle. Er hastete die Fondamente Nuove entlang, wandte den Blick hinüber, wo in der Abenddämmerung die Konturen von San Michele noch zu erkennen waren und eigenartige Lichterketten sich vielfärbig im Canal spiegelten. In den folgenden Monaten hatte Klossowski die Renovierung des Appartements in Auftrag gegeben und die Handwerker instruiert oder durch Mittelsmänner instruieren lassen. ("Ha bisogno", so hatten seine Anweisungen oft begonnen.) Einige der schweren Möbelstücke und Teppiche, in denen schon Motten gehaust hatten, waren von einem Antiquitätenhändler eigenhändig abtransportiert worden, der dafür noch einen symbolischen Preis bezahlt hatte. Das Appartement wirkte jetzt etwas geräumiger, weniger düster. Die vielen Bilderrahmen und einige alte Bücher hatte Klossowski in der engen Kammer zwischengelagert. Der schwere Schreibtisch mit der amethystfarbenen Bespannung und den klemmenden Schubladen war ans Fenster gerückt worden und sollte restauriert werden. Daneben stand eine Truhe, randvoll mit Dokumenten, Briefen und Fotos, die dem Onkel gehört hatten. Am Schreibtisch sitzend konnte man die Fassaden der gegenüberliegenden Häuser betrachten oder wenn man sich aus dem Stuhl erhob den Kanal, wo hin und wieder Boote vorbeikamen, die Waren zustellten oder die schwarzen Müllsäcke abholten, die sich in allen Hausfluren fanden. Den Dezember des Jahres 1999 hatte Klossowski größtenteils in Venedig verbracht, anfangs noch den Abschluß der Renovierung überwachend, teils auch selbst den Pinsel schwingend - wie er sich ausdrückte -, was den Türstöcken zum Vorteil gereicht hatte, in den Tagen nach dem Weihnachtsfest sich gewissermaßen schon als neuer Bürger der Lagunenstadt fühlend, tagsüber die ihm noch unbekannten Stadtviertel erkundend, die Via Garibaldi in der Nähe des Arsenals zum Beispiel. In früheren Jahren hatte Klossowski Venedig vielleicht fünf oder sechsmal besucht, aber das lag jetzt zehn oder zwanzig Jahre zurück und damals hatte er sich vor allem in den Stadtvierteln und Straßenzügen bewegt, die den an Architektur und bildender Kunst interessierten Touristen bevorzugt anziehen, zwischendurch menu touristico oder gulas mit wurstel in drittklassigen ristorantes gespeist und dazu billigen Tafelwein getrunken. Das alte Ghetto oder seine jetzige engere Heimat, die Kanäle und Gassen an den Fondamente Nuove und um den Rio della Misericordia hatten ihn damals nicht angelockt, obgleich er sich vage erinnerte, sich ein oder zweimal in diese Gegend verirrt zu haben, nachts wenn die krummen Gäßchen und die vielen gleichartigen Brücken die Orientierung erschwerten, vor allem nach dem Genuß des Tafelweins. Er hatte sich mit Dogenpalast, San Marco, Campanile, Rialto, Ca d'Oro und Capuccino begnügt, den silbrigen Fischgeruch in sich eingesogen, der an den Marktständen vorherrschte, ab und zu die Bar alla Speranza aufgesucht, die oft an seinem Weg lag und schon bald eine magnetische Anziehungskraft auf Klossowski entwickelte, der damals noch kein Amtsrat gewesen war, sondern ein junger Magistratsbeamter auf den ersten Sprossen der Karriereleiter. Nur einmal hatte er den Lido aufgesucht, im Ristorante "Blue Moon" gespeist, in der Nähe irgendwelcher Casinos, und sich mit dem Vaporetto zur Giudecca bringen lassen, wo er minutenlang einen Schuh betrachtet hatte, der dort direkt neben der Kaimauer im Wasser schaukelte, eine Gondel en miniature. Was den verstorbenen Onkel betraf, den Erblasser also, so hatte Klossowski ihn kaum gekannt. In den Jahren seiner Kindheit war Onkel Giovanni vielleicht vier oder fünfmal bei irgendwelchen Familienfesten dabeigewesen, ein damals schon nicht mehr ganz junger Mann mit zurückgekämmtem Haar, das pomadisiert im Nacken klebte, mit sehr skeptischem Blick, wie einer, der oft in die tiefstehende Sonne sieht, manchmal eine Pfeife rauchend oder sich jedenfalls an ihr festklammernd, eine beigefarbene oder hellbraune Weste tragend und eine kuriose Sprache sprechend. Giovanni sprach deutsch, aber mit einer eigentümlichen umbrisch-venezianischen Modulation, manchmal sich semantisch vergreifend, es aber meist rasch bemerkend und sich dann auf konfuse Art korrigierend. Der Amtsrat Klossowski wiederum konnte seine Herkunft aus einer Kärntner Kleinstadt nicht gänzlich verbergen, wo er fast die Hälfte seines bisherigen Lebens verbracht hatte. Die 24 Jahre, die er jetzt schon in der Hauptstadt lebte, hatten seinen Dialekt fast zum Verschwinden gebracht, was bei seinen Landsleuten keine Selbstverständlichkeit ist, aber in Augenblicken der Empörung oder der plötzlichen Überraschung (Gemütsaufwallungen kamen gelegentlich vor) oder nach dem Genuß von ein oder zwei Flaschen Gösser Gold verfiel er in den Tonfall seiner Heimat, zu der er sonst fast alle Brücken abgebrochen hatte. Nur wenige wußten, daß in einem seiner Schränke sich ein original Kärntner Trachtenanzug befand, den er aber kaum jemals in der Öffentlichkeit trug oder bei seinen monatlichen Opernbesuchen, den er aber hin und wieder, vielleicht zwei oder dreimal jährlich anlegte, zu besonderen Festtagen, damit vor dem Spiegel paradierend oder im Wohnzimmer herumschreitend. Vor einigen Monaten hatte Klossowski die Bekanntschaft einer in mancher Hinsicht höchst bemerkenswerten Frau gemacht. Das war insofern merkwürdig, weil er ansonsten wenig dazu beitrug, Bekanntschaften zu machen und auch nur mäßige Eigenleistungen zur Erhaltung oder Ausweitung von bereits bestehenden Bekanntschaften erbrachte. Seine Beziehung zu Frauen war überhaupt etwas prekär: Mitunter hatten sie ihre Meriten und waren charmant oder sogar verführerisch, oder beeindruckten durch andere Eigenschaften, zum Beispiel Scharfsinn, Klugheit oder vorzügliche Beobachtungsgabe, aber auf mittlere Sicht nervten sie doch oft, sofern sie sich nicht gar als Schreckschrauben erwiesen. Was Klossowski zur Zeit hauptsächlich beschäftigte und an privaten Verstrickungen hinderte, waren die ihm zugeteilten Agenden in der magistratischen Planungsabteilung, wo er sich mit den Raumordnungsaspekten von demographischen Entwicklungen befaßte, ein vor allem zu Zeiten ökonomischer oder geopolitischer Umbrüche und vermehrter Migration sensibler und verantwortungsvoller Bereich der städtischen Verwaltung, der ihn weit über die offiziellen Bürozeiten hinaus beanspruchte - daher auch die vielen Kartogramme in seiner näheren Umgebung, zusammengerollt oder an die Wand geheftet mit spitzen dünnen Stiften: In seinem Arbeitszimmer, im Fond seines vorzüglichen Automobils, ja sogar im Wäscheschrank entdeckte er gelegentlich zwischen hellblauen Hemden und dunkelblauen Gilets Kartogramm-Röllchen, die aus unerfindlichen Gründen dort gelandet waren. Wenn man diese Papyri entrollte, zeigten sie die Konturen und Muster der städtischen Topographie: Problemzonen und erneuerungsbedürftige Sanierungsgebiete erschienen schraffiert oder überhaupt schwarz, wogegen die attraktiven, intakten Stadtteile, die keiner Förderungsprogramme bedurften oder die unbesiedelten Flächen an der Peripherie weiß oder grau ausgewiesen waren... Zwei- oder dreimal jährlich begab er sich auf mehrtägige Dienstreisen, zu Kongressen oder kurzen Studienaufenthalten in europäische oder nordamerikanische Metropolen, um sich dort mit neuen Entwicklungen in seinem Arbeitsfeld vertraut zu machen und die anregende Atmosphäre des akademischen Austauschs zu genießen. Dabei ergab sich ab und zu die Gelegenheit zu geistvoller Konversation, dauerhafte Bekanntschaften oder gar Freundschaften entstanden aus solchen Begegnungen aber kaum.

3. Lucy Westinghouse

Die Frau, die unverhofft ins Leben des Amtsrates getreten war, hieß Lucy Westinghouse, führte ein etwas unstetes Leben, in dem Übersiedlungen ungefähr so häufig waren wie accents graves in einem französischen Text oder etwas seltener als Paragraphenzeichen in den Bundesgesetzblättern. In den vergangenen fünf Jahren hatte sie in Graz, Lausanne, Prag und zuletzt in Wien logiert. Sie war - wie auch der Amtsrat - von überdurchschnittlicher Größe, überaus rothaarig, etwas bleich und gegen das Sonnenlicht empfindlich, leicht sommersprossig, stammte aus guter Familie, mit der sie seit ihrer Jugend auf ziemlichem Kriegsfuß stand, und hatte im Lauf der Jahre mehrere disparate Karrieren eingeschlagen, als Redakteurin einer avantgardistischen Zeitschrift, als interimistische Direktorin einer Galerie, als Verkäuferin im "Astro-Shop" einer Freundin, wo esoterische Requisiten erhältlich waren, oder als Mitarbeiterin eines Marktforschungsinstituts. Zuletzt hatte sie sich als freiberufliche Kommunikationstrainerin etabliert, was niemanden wirklich überraschte. Das von ihr bewohnte 80-Quadratmeter-Appartement in der Laudongasse, zeitweise von übermäßigem Weihrauch-Duft penetriert, der einem Messinggefäß im Wohnzimmer entwich, fungierte zugleich als Praxis oder Büro, etwas beengt, wie man sich leicht vorstellen kann, denn schon Lucys Garderobe war umfänglich und sie besaß nach eigenen, glaubwürdigen Angaben etwa 40 Paar Schuhe, die Stiefel nicht mitgezählt. Auch das Kontingent an Sommer- und Abendkleidern war beachtlich, ganz zu schweigen von Mänteln, Paletots, Jacken und Overalls mit Leopardenmuster. Wie hatte der sonst so zurückhaltende, reservierte Amtsrat Lucys Bekanntschaft gemacht? Die Frage ist nicht so einfach zu beantworten, der Gründe gab es viele und nur komplexe Modelle der Pfadanalyse oder stochastische Kalküle hätten das verwirrende Ursachengeflecht erhellen können, doch hatte es zunächst eines äußeren, trivialen Anlasses bedurft, um den Stein ins Rollen, den Ventilator zum Rotieren zu bringen, oder auch: das Roß zum Galoppieren. Es hatte eines unscheinbaren Morgens damit begonnen, daß Klossowski auf dem damals regennassen Asphalt ein blaues Etui erspäht hatte, als er sich anschickte die Fahrbahn der Lenaugasse zu queren, auf dem Weg ins Cafe Eyeless, wo er Milgram-Strudel zu verzehren und im "Standard" zu blättern wünschte. "Sieh an", hatte Klossowski gedacht, sich beweglich gebückt und das leicht verschmutzte Etui mit spitzen Fingern an sich gebracht, sich umwendend mit der stummen Frage: "Nessuno mi ha visto?" - Das Glück war ihm hold. Kein Zeuge hatte die Aneignung des Fundes beobachtet. Das Etui sagte ihm zu, obwohl es mitnichten aus edlem Material gefertigt war; wahrscheinlich wegen der dunklen Bläue, die er an fast allen Gegenständen liebte. Er hatte das Etui aber nicht gleich geöffnet, sondern zögerte diesen Augenblick noch zwei oder drei Minuten hinaus. So wie die meisten Annehmlichkeiten an zusätzlichem Reiz gewinnen, wenn sie durch umständliche Vorbereitungshandlungen (Präliminarien) hinausgezögert werden, sei es, daß die Katze mit der Maus spielt oder im Kasperltheater die in Gefahr befindlichen Personen erst im letzten Moment gerettet werden, d.h. zu einem Zeitpunkt, als das kindliche Publikum sie schon verloren oder vom Krokodil gefressen glaubt, so setzte auch Klossowski in dieser Situation auf die stimulierende Wirkung retardierender Elemente. Erst als er in einer bequemen Loge sich niedergelassen hatte, mit Blick auf die Landesgerichtsstraße, und einige Gegenstände auf seiner marmornen Benutzeroberfläche zurechtgerückt hatte, atmete er ein paar mal kräftig durch, entzündete umständlich einen Nikotinstab und machte sich daran, den Fund zu sichten, nicht überstürzt und gierig, sondern anscheinend gelassen und umsichtig. Zunächst beroch er das Etui, öffnete es sodann - und fand insgesamt drei Ausweise und eine nicht mehr aktuelle Scheckkarte, allesamt lautend auf Lucy C. Westinghouse, per Adresse Laudongasse. Anders als die Scheckkarte, welche nur von dem holographischen Bildnis eines tauben Compositeurs geziert war, enthielten zwei der Ausweise Lucys Foto, das den Finder mehr zu überzeugen vermochte. In einem der Ausweise klebte ein erstaunliches Paßfoto, das eine bemerkenswert gut aussehende junge Frau zeigte; das andere Konterfei war weniger gelungen und entstammte ganz offenkundig einem Automaten, der gegen Münzeinwurf Fotos von jämmerlicher Qualität erzeugte. Die Farben konnten unmöglich stimmen. Auf diesem Bild sah Lucy ziemlich grün im Gesicht aus, die Augen glänzten schreckgeweitet und in der Brille, die Lucy auf diesem Foto trug, was ihr einen überaus strengen Ausdruck verlieh, spiegelten sich nicht sehr vorteilhaft die Reflexe des Blitzlichts. Klossowski atmete durch. Es verlangte ihn nach einem belebenden Getränk. Wie so oft im Leben gab es mehr als eine Möglichkeit. Er konnte den Fund für sich behalten, ihn gewissermaßen unterschlagen und sich damit einer strafbaren Handlung schuldig machen, könnte dann aber jederzeit Lucys Bildnis betrachten, so oft und so ausgiebig er wollte. Es war aber auch möglich, das Etui samt den Ausweisen per Post an Lucy zu senden; er konnte sie natürlich auch persönlich aufsuchen, noch heute Abend zum Beispiel... Oder er würde ihre Telefonnummer eruieren, aus dem amtlichen Telefonbuch... Aber was, wenn sie eine sogenannte Geheimnummer besaß? Er neigte den Kopf ganz schräg und betrachtete nochmals das gelungenere der beiden Fotos, kaum bemerkend, daß der solarium-gebräunte ältliche Ober, der stets so vital wirkte, mit federnden Schritten an ihn herangetreten war und die Bestellung aufzunehmen wünschte. Zerstreut wie er war, bestellte Klossowski bloß eine Melange, vergaß ganz auf den Milgram-Strudel... Es war dem Amtsrat am Abend desselben Tages gelungen, Lucys Telefonnummer festzustellen, doch war er dann nicht weiter aktiv geworden, weil andere Angelegenheiten ihn in Anspruch genommen hatten. Im Fernsehen wurde eine Dokumentation über neue Ergebnisse der ägyptologischen Forschung gesendet, namentlich über astronomische Dimensionen des Pyramidenbaus und über die sakrale Bedeutung der Entlüftungsschächte, welche aus den Grabkammern an die Oberfläche führten. Vom Sternbild Orion war die Rede und wie es morphologisch mit der Anordnung der Pyramiden von Gizeh übereinstimme, doch war vorerst höchst umstritten, welche Schlüsse aus dieser Kongruenz zu ziehen waren. Am folgenden Vormittag war eine Konferenz anberaumt, wo Klossowski mit mäßigem Interesse bestimmte Überlegungen zur besseren Koordination und Vernetzung der kommunalen Dienststellen mitanhörte, indessen bizarre Spiralen, Vogelköpfe und Pyramiden auf ein Blatt Papier kritzelnd. Erst als die Konferenz dem Ende entgegenging und Senatsrat Jarecki die Ergebnisse derselben umständlich resümierte, erinnerte der Amtsrat sich des Etuis, verschwand rasch in seinem Zimmer, wo er Lucys Nummer wählte, ward aber nur mit dem Anrufbeantworter verbunden. In eher geschäftsmäßigem Tonfall lernte er also Lucys Stimme anfänglich kennen, eine etwas geheimnisvolle Altstimme, die den Amtsrat aufforderte eine Nachricht zu hinterlassen. Er tat es, sprach mit belegter Stimme aufs Band, er ersuche um Rückruf während der Amtsstunden, tunlichst vor 15 Uhr, es gehe um Lucys Ausweise, die er gefunden habe, in der Lenaugasse, nächst dem Cafe Eyeless. Es war zwei oder drei Minuten vor 15 Uhr, als der telefonische Apparat auf seinem Schreibtisch schellte. Klossowski war gerade über mehrere Kartogramme gebeugt, die er nebeneinander ausgebreitet hatte, zu Vergleichszwecken. Im Korridor waren laute Stimmen zu hören, die seine Konzentration schon seit Minuten beeinträchtigten und durch das geöffnete Fenster drang ekstatisches Klavierspiel, was in einem Amtsgebäude ungewöhnlich, wenn nicht gar ungehörig war. Es dauerte ziemlich lang, ehe Klossowski den Hörer abnahm. Dieser Umstand bewirkte, daß Lucy ein paar Takte des Glockenspiels zu hören bekam, welches ertönt, wenn an einem magistratischen Telefonanschluß nicht sofort abgehoben wird. Man verabredete sich für die Abendstunden, in einem Speiselokal in der Josefstadt, auf halbem Weg. Klossowski meinte, aufgrund der Fotos in den Ausweisen würde es ihm unschwer gelingen, Lucy zu erkennen. Als Lucy umgekehrt nach möglichen Erkennungsmerkmalen fragte, erwiderte er: Er sei Amtsrat, trage vor allem dunkelblaue Kleidung, dazu eine Baskenmütze in eben dieser Farbe; seine Oberlippe ziere ein leicht angegrauter Bart. Mit Narben, Tätowierungen oder ähnlichen Auffälligkeiten könne er nicht dienen, doch besuche er ab und zu die Oper, vor allem die Musikdramen Salieris und Donizettis schätze er. Es wird kaum verwundern, daß Lucys Neugier durch diese eigenartige Selber-Beschreibung des Amtsrates geweckt worden war. Von Amtsräten wußte sie wenig, da sie mit staatlichen und kommunalen Bürokratien bis dato wenig zu tun gehabt hatte. Das Terrain, auf dem sie sich zuletzt bewegt hatte, waren die Jagdgründe der Marktwirtschaft und der Organisationsberatung. Sie goutierte diese Beschäftigungen nicht wirklich, es waren "dillo Jobs" (nicht "tuli Jobs"), wie sie manchmal sich selbst bemitleidend äußerte, in Gegenwart irgendwelcher Freunde & Freundinnen. Es hätte ihr mehr behagt, die Tage in Gemäldegalerien und Museen zu verbringen, beim Anblick von Decollagen, Schüttbildern oder bizarren Rauminstallationen, oder mit der Lektüre esoterischen Schrifttums. Aber der Umgang mit Wirtschaftsmenschen, wie sie sich ausdrückte, vermittelte ihr doch auch ein Lebensgefühl, das sie vormals nicht gekannt hatte: Sie fühlte sich jetzt eminent wichtig, wo ihr die erstaunlichen Transaktionen der Hochfinanz kein Buch mit sieben Siegeln mehr waren, wo sie Bescheid wußte über die unsäglich quälenden Nöte & Ängste des mittleren Managements...

4. Pallas Athene und der Kentaur

Das Treffen erfolgte wie verabredet. Klossowski hatte die Zeit nach Büroschluß mit einem eher planlosen Rundgang durch die Josefstadt und angrenzende Straßenzüge des Alsergrunds verbracht, gelegentlich einen Blick in die Schaufenster werfend oder einen Hinterhof erkundend. Lucy hatte ziemlich herumgetrödelt und schaffte es spielend, gut eine Viertelstunde zu spät zu kommen, obwohl der vereinbarte Treffpunkt nicht mehr als drei oder vier Blocks von ihrem Appartement entfernt war. Fast schien es, als ob sie an der Wiedererlangung ihrer Dokumente weniger interessiert wäre, als der Amtsrat an deren Aushändigung. Lucys Verhältnis zu Männern hatte sich zuletzt etwas kompliziert. Oft waren sie ausgesprochen langweilig oder ganz schön infantil, wie sie nicht nur in beruflichen Angelegenheiten schon mehrmals bemerken mußte. Direktoren und Vorstandsmitglieder von multinationalen Konzernen verschwendeten ihre Energien in einfältigen Bürointrigen, besuchten Fitness-Studios oder Bräunungsagenturen und benahmen sich dort ziemlich penetrant, verbrachten viele Stunden mit ihren vertrackten Modell-Eisenbahnen, die sie in Wohngemächern und Hobbyräumen installiert hatten - oder mit anderen, nicht minder kindlichen Vergnügungen. Selbst die Lüsternheit der Männer bewegte sich zumeist auf sehr kindlichem, simplem, vordergründigem Niveau und ließ wenig Phantasie, wenig Kreativität erkennen. Es war nicht ihre zeitweilige groteske Sexbesessenheit, die Lucy verstörte, sondern die Einfallslosigkeit, der Mangel an spielerisch-jonglierenden Elementen, die fehlende Bereitschaft, sich den Launen des Augenblicks zu überlassen. Sie hatten wenig Sinn für "Überraschungsspiele". Wahrscheinlich würde auch der Amtsrat keine Ausnahme sein: Eine graue, langweilige Beamtenexistenz, ein Mensch, der nach Büroschluß in den Straßen herumirrte, auf der Suche nach der verlorenen Zeit oder der nächsten Kneipe, wie Leopold Bloom, der dabei über ein Ausweisetui stolperte und vor lauter Ordnungsliebe nicht umhin konnte, es an sich zu bringen und seiner Besitzerin auszufolgen. Bei Lucys Anblick würde dieser verstaubte Amtsrat dann womöglich in irgendwelche peinlichen Verzückungs-Zustände geraten, ihr in penetranter Art den Hof machen und sie in den kommenden Wochen wiederholt bedrängen - ihre Telefonnummer hatte er ja zu allem Unglück schon. Ungemach schien programmiert. Also verzichtete Lucy darauf, sich herauszuputzen, wozu auch, warf nur ein unscheinbares Jäckchen über, schlüpfte in zeitlose Schnürschuhe, die nicht ganz sauber waren und machte sich ohne das Haar zu kämmen und ohne prüfenden Blick in den Spiegel auf den Weg in das beengte Restaurant, in welchem die Übergabe ihres Etuis stattfinden sollte. Womöglich erwartete der Amtsrat noch Dankesbezeugungen. Beim Gedanken daran wurde ihr fast übel. Aber sie war bereits zu sehr in Eile, um sich dieser Übelkeits-Vorstellung voll hingeben zu können. Klossowski war natürlich schon längst da, pünktlicher Mensch wie er war. Er hatte sich inzwischen häuslich eingerichtet, hatte Zigarettenschachtel und Streichholzbriefchen ausgepackt, den Terminplaner und ein paar sonstige Requisiten vor sich ausgebreitet, so daß kaum mehr Platz war für das Glas Bardolino, das zur Hälfte geleert war. Lucy erkannte ihn sofort, obwohl sie eine ganz andere Vorstellung gehabt hatte. Es war kein feister, unförmiger Seehund, sondern eine hohe, leicht dämonische Erscheinung, selbst im Sitzen war das zu ersehen. Sie schwebte auf ihn zu, streckte ihm relativ freundlich, aber nicht sonderlich damenhaft die Hand entgegen und sagte: "Lucy Westinghouse. In gewisser Weise bin ich Ihnen ja nicht mehr ganz unbekannt." - Der Amtsrat lächelte - und sein Lächeln hatte etwas Lauerndes, Verschlagenes, raubtier-like. Lucy fühlte gewisse Alarmglocken anschlagen, innerlich, und placierte sich in dem nicht wirklich bequemen Stuhl, während der Amtsrat sich anschickte, den Tisch freizumachen und seine Requisiten anderswo abzulegen. Er händigte Lucy das Etui samt Inhalt aus. Sie grinste vergnügt: "Wo haben Sie es gefunden? Ich meine: Wo genau?" Der Amtsrat erklärte sehr präzis die näheren Umstände, ungefähr in den selben Worten, derer er sich zur Formulierung eines Aktenvermerks bedient hätte: Wie er sich angeschickt hatte, die Lenaugasse zu queren, schräg vis à vis vom Cafe Eyeless, als er auf das selbe zusteuerte, um dort Milgram-Strudel zu verzehren. - Indessen fiel Lucys Blick auf die Weste des Amtsrats, auf die prachtvolle Uhrkette, auf die bemerkenswert saubere Schuhspitze, die unter dem Tisch hervorragte, auf die nicht minder sauberen Fingernägel, die aparte Erscheinung. Er mochte um die 45 sein, genau war das schwer zu sagen. Die folgende Konversation entwickelte sich in der Art des Autodrom-Fahrens und erinnerte Lucy an ihre Jugend: Recht chaotisch, man rumste dauernd gegen irgend etwas oder irgend jemand, aber genau das schien den Reiz auszumachen. Nach kaum zehn Minuten sprach der Amtsrat von seinen Besuchen in Antiquariaten, von der Bikarbonat-Zahnpaste, die er kürzlich erworben hatte und die ihm gar nicht zusage. Und daß er vor ein paar Wochen eine Konferenz in Montreal besucht habe, eine Stadt, in der es ausgedehnte unterirdische Straßenzüge und Stadtteile gebe, wo man sich dem eisigen Wind entziehen könne, der durch die Straßen wehe. Und Klossowski erzählte von seinem aus Umbrien stammenden Onkel Giovanni, der mit mercerisierter Baumwolle gehandelt und gute Handelsbeziehungen nach Südamerika unterhalten hatte. Lucy fixierte seit längerem das eigenartige Streichholzbriefchen, das neben dem Silbertablett lag. Ohne Brille gelang es ihr nicht, den Schriftzug zu entziffern. Später sollte sie bemerken, daß es aus einem argentinischen Hotel stammte und sie fragte sich, ob der Amtsrat des öfteren Fernreisen unternahm. Lucy war gesprächiger als sonst. Eigentlich war sie gekommen, um das Etui in Empfang zu nehmen, einen Martini rosso zu trinken und sich dann rasch zu empfehlen. Sie schätzte es - anders als in früheren, wilderen Jahren - nicht sehr, den späten Abend außer Haus zu verbringen. Aber kaum eine halbe Stunde war vergangen, als sie von ihrer Jugend in einer Stadt erzählte, deren Wahrzeichen ein Uhrturm war, von ihrem Vater und dessen morgendlichen Wutanfällen beim Frühstück und wie sie ihn provoziert hatte durch vorsätzliche Erzeugung von Honigflecken auf dem Tischtuch. Sie verschwieg auch nicht, daß es in dem Haus, in welchem sie zur Zeit wohnte, ein paar sehr merkwürdige Leute gab, die ihr unheimlich waren. Neugier leuchtete in den Augen des Amtsrates auf. Lucy befriedigte diese Neugier und erzählte von der sehr alten, hinfälligen Frau im unteren Stockwerk, die ihr ab und zu im Treppenhaus begegne, mit dem Zeigefinger der rechten Hand hexenmäßige Lock-Bewegungen ausführe und dabei die Worte: "Ich hab wieder Suppe gekocht!" ausspreche. Einmal war Lucy der Alten in ihre Wohnung gefolgt und hatte dort geduldet, daß ihr ein Teller mit einigen Löffeln einer ziemlich salzigen Suppe vorgesetzt wurde, auch war der Teller nicht wirklich sauber gewesen. Es hatte Lucy gegraust, aber sie hatte diesen Kelch bis zur Neige geleert. Und es gab noch eine andere ältliche Dame, die mit magyarischem Akzent spreche, mehrmals täglich die Türklinken mit einem Tuch abwische, um sie derart von gefährlichen Bakterien zu säubern und so manchen Vormittag in der Nähe der Postkästchen verbringe, auf den Briefträger lauernd. Wenn man dann den Hausflur betrete, sage sie mit klagendem Ton und Marika-Rökk-Akzent: "Postmeister ist noch nicht gekommen..." Lucy hatte inzwischen ein Glas Wein bestellt, der Amtsrat war ihrem Beispiel gefolgt und fragte jetzt, ob sie denn zu speisen wünsche - auf jeden Fall sei sie gern eingeladen. Lucy akzeptierte und Klossowski winkte auf unnachahmlich elegante Art den Gar(on herbei. Man speiste, der Amtsrat mit besten Manieren, Lucy mit erstaunlichem Appetit, wenn man bedenkt, daß sie zuhause nur ein dürftig belegtes Brötchen oder einen marinierten Hering zu Abend essen wollte, dazu ein Glas minder prickelndes Mineralwasser. Zwischen den Bissen machte Lucy ein paar Andeutungen über ihre derzeitigen Geschäfte. Sie beriet eine vormals staatstragende, zuletzt aber stark abbauende konservative Partei, die ihre internen Kommunikationsstrukturen verbessern oder gar erneuern wollte, was kein leichtes Unterfangen war, weil sich Konservative nun einmal ungern von der Notwendigkeit des Experimentierens und der Innovation überzeugen ließen. Sie schlug sich mit Managern und Kommerzialräten herum, die ihre Ziele aus den Augen verloren hatten und jetzt aufs Abscheulichste regredierten und in die Verhaltensweisen ihrer frühen Kindheit verfielen, was Lucy durch ihre gruppendynamischen Mätzchen zusätzlich förderte. Lucy fragte den Amtsrat, ob er schon jemals ein Fitness-Studio betreten habe. Klossowski, erstaunt über die direkte, ziemlich indiskrete Frage, verneinte und setzte wieder seinen lauernden Raubtierblick auf, vergaß aber zu kontern. Lucy setzte nach, fragte jetzt nach Modell-Eisenbahnen. Klossowski verneinte abermals, aber sein Ton ließ doch vermuten, daß er Modell-Eisenbahnen nicht an sich abwegig fand. Lucy sah ausgesprochen mißtrauisch drein. "Sie haben ganz sicher keine Modell-Eisenbahn, bei sich zu Hause, im Wohnzimmer, oder sonstwo?" Klossowski war irritiert. Die junge Frau hatte dem Anschein nach erhebliche Bedenken gegen Modell-Eisenbahnen. Warum dies? Klossowski kam auf seinen Vorgesetzten zu sprechen, den Senatsrat Jarecki - und er äußerte sich in einem bitteren, die Grenze zum Sarkasmus streifenden Ton. Jarecki, der Chef, besitze angeblich eine gigantische Modell-Eisenbahnanlage, die fast eine ganze Etage des von ihm bewohnten Reihenhauses ausfülle, mit zahllosen Gleisen, Weichen, Stationsgebäuden, Tunneln, Ampelanlagen und Transformatoren, alles von Märklin. Andere Mitarbeiter des Magistrats würden ihn ab und zu besuchen - und sie verbrächten dann Stunden mit dem Betrachten der Eisenbahn, mit komplizierten Rangiermanövern, mit der Simulation von Entgleisungen und der Inspektion von Dampflokomotiven und mehr-achsigen Güterwaggons. Lucy nahm zur Kenntnis, daß der Amtsrat in relativ elaborierter, sachkundiger Art über Modell-Eisenbahnen sprechen konnte. Vielleicht hat er ja als Knabe eine besessen, und es ist nur die alte Faszination, die durchleuchtet, dachte sie, den Amtsrat in gewisser Weise vor ihrem Verdacht in Schutz nehmend. Klossowski hatte befriedigt bemerkt, daß Lucy in sehr handfester, praktischer Weise gespeist und getrunken hatte, es war kein symbolischer Akt gewesen, sondern eine sehr reale Sache. Auf den Tellern war nichts zurück geblieben, von den Spuren der Carbonara-Sauce abgesehen. Demonstrativ säuberte Lucy die Lippen mit der Papierserviette, faltete dieselbe zusammen und placierte sie auf dem Teller. Sie erinnert an eine der jungen Frauengestalten in Botticellis Primavera-Allegorie, dachte der Amtsrat, oder gleicht sie mehr der Frau auf diesem Kentauren-Bildnis? Pallas Athene und der Kentaur? Er konnte sich nicht so recht entsinnen und beklagte sein schlechtes Gedächtnis in solchen Dingen. Der Gar(on nahte sich, fragte: "Hat gut geschmeckt?", und entfernte sich wieder, unter Mitnahme der nicht mehr benötigten Teller und Gläser. Klossowski ersuchte Lucy, seine Unhöflichkeit doch zu verzeihen, doch liege morgen ein ungewöhnlich schwieriger Arbeitstag vor ihm, mit einigen dringlichen Sofort-Entscheidungen, und er habe noch einen weiten Weg vor sich, er wohne ja gewissermaßen am andern Ende der Stadt. Das war merkwürdig gesagt, wo man sich doch gerade ziemlich im Zentrum befand. Lucy bedankte sich höflich für das Etui und die Einladung zu diesem angenehmen Abendessen - und der Amtsrat meinte, vielleicht ließe sich die so ersprießliche Konversation zu einem späteren, günstigeren Zeitpunkt fortsetzen. Zu gern hätte er noch mehr über die Suppen-Kochende Alte und Lucys Problem mit Fitness-Studios und Modell-Eisenbahnen in Erfahrung gebracht. Lucy war nicht abgeneigt, den gar nicht unförmigen, kosmopolitischen, leicht diabolischen, durchaus nicht geistlosen Seehund wiederzusehen. Ein weiteres Treffen wurde, nicht allzu verbindlich, aber doch ins Auge gefaßt. Sie verließen das kleine, erlesene Restaurant, nachdem Klossowski die Rechnung beglichen und dem Gar(on ein beachtliches Trinkgeld überlassen hatte. Ihre Wege trennten sich ungefähr dort, wo die Spitalgasse auf die Laudongasse trifft, welche Lucy jetzt mit zielstrebigen Schritten stadtauswärts davoneilte. Der Amtsrat sah ihr nach, leicht verwirrt. Er winkte einem gerade vorbeirollenden Taxi und gab zu verstehen, er wünsche in den dritten Bezirk gefahren zu werden. Der Kärntner Akzent war dabei kaum zu überhören.

5. Glühbirnen

Nur wenige Minuten später erreichte Lucy ihr Wohnhaus und mußte zu ihrem Entsetzen feststellen, daß die Beleuchtung im Hausflur bzw. Treppenhaus anscheinend defekt war. So sehr sie den Schalter drückte, es blieb finster. Das unverhältnismäßige Entsetzen rührte daher, daß ihr die näheren Umstände eines Verbrechens noch gut erinnerlich waren, das vor nunmehr fast 20 Jahren die Öffentlichkeit beunruhigt hatte und ihres Wissens nie aufgeklärt worden war. Damals war in den Morgenstunden des Karfreitags ein junges Mädchen aus drei Stichwunden blutend und nur mehr schwach röchelnd vor einem Haus in der Inneren Stadt aufgefunden worden und wenig später, ohne noch irgendwelche Angaben machen zu können, an den durch Messerstiche zugefügten Verletzungen gestorben. Polizeiliche Ermittlungen hatten schon bald ergeben, daß der Mörder nach einem "teuflischen Plan" vorgegangen war und seine Untat vorbereitet hatte, indem er mehrere Glühbirnen, welche sonst den Hausflur erleuchteten, aus den Fassungen geschraubt hatte. Auf diese Weise war es ihm gelungen, sich selbst zu verbergen und seinem Opfer im Finstern aufzulauern. In den Zeitungen war ausführlich und in einer gelungenen Melange aus Fakten und Spekulationen über den Hergang der Dinge berichtet worden, soweit dieselben sich aus den vorhandenen Spuren und den Aussagen von Zeugen rekonstruieren ließen. Der "Karfreitagmörder", so war zu lesen, war dem Anschein nach durch einen unterirdischen Gang geflüchtet, der den Keller des Hauses Maysedergasse 1 (das "Mordhaus") mit verschiedenen anderen Gebäuden der Umgebung verbindet und unter anderem zur Oper und ins Hotel Sacher führt, weshalb die Ermittlungen sich auch auf diese Orte erstreckten. Spuren vom Mörder waren in den Gängen nicht entdeckt worden, doch konnte er nur auf diesem Weg entkommen sein. Das Motiv der Bluttat blieb im Dunkeln. Christine S., wie die Ermordete geheißen hatte, schien der Inbegriff eines biederen, allseits beliebten und geschätzten jungen Mädchens, war der ganze Stolz ihrer nunmehr gebrochenen und verzweifelten Eltern gewesen und hatte nie zu irgendeiner Beunruhigung Anlaß geboten. Einen Freund hatte sie anscheinend nicht gehabt und ihre ganze Freizeit verbrachte sie damit, ihre eigene Garderobe zu schneidern, wobei sie überaus geschickt war. Seit einigen Monaten war sie als Lehrling in dem distinguierten Modehaus "Zur englischen Flotte", in der Maysedergasse 1 etabliert, beschäftigt, wo sie an jenem verhängnisvollen Karfreitag wie auch sonst ihren Dienst antreten wollte, nachdem sie zuvor in einem Geschäft in der Krugerstraße noch eine Liptauersemmel gekauft hatte, die sie tagsüber zu verzehren gedachte... "Im August hätte sie ihren 17. Geburtstag gefeiert", sagten die entsetzten Kolleginnen. "Sie wurde von uns wegen ihrer guten Figur, ihrer schönen Augen und ihrer samtenen dunklen Haare bewundert. Sie wirkte nie ungepflegt." Der unbekannte Mörder, der es sichtlich nicht auf die Liptauersemmel abgesehen hatte, mußte blitzschnell zugeschlagen haben, das Herausschrauben der Glühbirnen im Flur war anscheinend äußerst professionell und gekonnt erfolgt. "Die Bestie lauerte vermutlich schon tagelang auf das Opfer und schlug am Karfreitag zu, als die 16-Jährige bei orkanartigem Wind und heftigem Schneeregen das Haus in der Maysedergasse betrat", schrieb eine Zeitung, die besonders ausführlich von der Bluttat berichtete und den Lesern auch einige Fotos vom Tatort und den dort zurückgebliebenen Requisiten zu bieten hatte. Lucy hatte von dem Verbrechen gelesen, als sie gerade 14 Jahre alt war - und in ihren eigenartigen, morbiden Phantasien hatte sie sich die Szene des öfteren ausgemalt, so wie sie sich ein oder zwei Jahre vorher manchmal "aus-gemalt" hatte, wie es im Fegefeuer sein würde, wenn man von irgendwelchen bösartigen Unterteufeln gequält wurde. Die unwirtliche Witterung an diesem Morgen, den Erwerb der Liptauersemmel, das Betreten des Hausflurs, das plötzliche Bemerken, daß dort nicht wie sonst wohlgefaßte Glühbirnen den Weg erleuchten, und im nächsten Augenblick schon die Begegnung mit dem nicht erkennbaren Mörder, der in der Finsternis mehrmals zusticht und sogleich die Flucht ergreift, durch den unterirdischen Gang. Als Lucy jetzt bemerken mußte, daß die Gangbeleuchtung nicht funktionierte, entsann sie sich plötzlich der alten Geschichte und befürchtete, es könne der Karfreitagmörder sich im Treppenhaus verborgen halten und dort auf sie lauern und sie verspürte den Impuls umzukehren, Alarm zu schlagen oder dergleichen. Im Treppenhaus war nichts zu hören, nichts zu sehen. Doch sie bemeisterte ihren Schrecken, bewies Ich-Stärke und tastete sich nach kurzer Realitätsprüfung zum Stiegenaufgang. Reichlich beklommen und aufgeregt tastete sie sich langsam voran, stets die Attacke des Mörders oder die Messerstiche erwartend. Sie brauchte Minuten, bis sie den ersten Halbstock erreicht hatte. Vom Karfreitagmörder war vorerst keine Spur. Im ersten Stock brannte noch Licht in der Wohnung der Alten, die stets Suppe kochte, und Lucy drang weiter vor, in etwas geduckter und kampfbereiter Haltung, zwischen Scylla und Charybdis. Im Dunkel harrte der Mörder; in der Wohnung der Alten die salzige Suppe. Unversehrt erreichte Lucy den zweiten Stock und stand Sekunden später vor ihrer Wohnungstür. Sie schauderte, als in eben jenem Augenblick, wo sie sich anschickte, das Schloß zu sperren, ein Ächzen ertönte, das anscheinend von einer schlecht geölten Tür im oberen Stockwerk rührte. Endlich war sie in Sicherheit. Sie ließ sich erschöpft aufs Sofa sinken, aber nur um gleich wieder aufzuspringen und sich in der Küche ein Glas Grappa einzugießen, das sie mit immer noch bebenden Fingern leerte, denn ihr war ganz schlecht...

 

 

       Gerhard Hanak :

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