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Kirsten Wessely

Zwei Monate in Ostrograd

 

Nepokorny hatte in letzter Zeit immer wieder von Zügen geträumt. Zum Beispiel, daß er sich am Bahnhof verirrte und dadurch seinen Zug versäumte. Oder daß der Zug plötzlich ganz woanders hinfuhr als erwartet. 

In einem der Träume hatte der Zug sogar Flügel bekommen und war zum Mond geflogen, wo Nepokorny zusammen mit anderen Passagieren ausgestiegen war und sich erst mal auf die Suche nach einer Telefonzelle gemacht hatte, um seinen Chef zu verständigen, daß er seinen Termin in München am selben Tag wohl nicht einhalten würde können. Als Nepokorny nun tatsächlich in einen Zug stieg, um nach Ostrograd zu fahren, wo er einiges zu erledigen hatte, kamen ihm ernste Zweifel, ob es sich dabei nicht wieder um einen Traum handelte.

Schon als er den Waggon betrat, stieg ihm ein merkwürdiger Duft entgegen, den er nicht gleich als den Geruch von Schnupftabak erkannte. Er nahm in einem Abteil Platz, in dem bereits ein junges Mädchen mit einer in einem verschließbaren Korb untergebrachten Katze saß. Wie sich herausstellte, sprach das Mädchen nur polnisch, deshalb zog Nepokorny nach kurzer Zeit die Tageszeitung aus seiner Reisetasche und begann zu lesen. So erfuhr er von einem Zugsunglück auf der Strecke Wien-Prag, das sich in der letzten Nacht ereignet haben sollte. Daraufhin legte Nepokorny die Zeitung beiseite und beschloß, stattdessen ein Buch zu lesen. Dazu kam er aber gar nicht, denn jetzt öffnete sich die Tür des Abteils, und es wurden erst die Fahrkarten, dann die Pässe und zuletzt das Gepäck kontrolliert.

Irgendwann wurde es schließlich dunkel, und Nepokorny zog seine Schuhe aus und legte sich quer über die drei Sitze auf seiner Seite des Abteils. Es gelang ihm tatsächlich, seine Besorgnis über das Zugsunglück zu vergessen und einzuschlafen. Ob er diesmal von Zügen geträumt hatte oder nicht, vermochte Nepokorny nicht zu sagen, als er um zwei von einem tschechischen Ehepaar geweckt wurde, das ins Abteil gekommen war und die zwei Plätze neben dem Mädchen mit der Katze besetzte. Das Mädchen hatte noch nicht geschlafen und stellte den Katzenkorb bereitwillig auf den Boden. Nepokorny kam sich in diesem Moment etwas unhöflich vor, weil er nicht Platz gemacht hatte, schlief aber gleich wieder ein.

Als er aufwachte, war es schon hell geworden, und der Zug hielt gerade an der Station „Zapadni Ostrograd“.

Nepokorny stellte fest, daß er allein im Abteil war. Das tschechische Ehepaar und die Polin mit der Katze waren ausgestiegen, ohne daß er es bemerkt hatte. Die nächste Station war der Ostrograder Hauptbahnhof, wo Nepokorny aussteigen mußte. Er beeilte sich, die Zeitung und seine Schuhe zu finden, die auf dem Boden lagen, und lief zum Ausgang. Der Bahnsteig war menschenleer. Nepokorny war offensichtlich der Einzige, der an dieser Station ausstieg. In Gedanken versunken begab er sich zur Rolltreppe, die vom dunklen Bahnsteig hinauf ans Tageslicht führte. Ostrograd war eine riesige Stadt, die Nepokorny schon früher genau kennengelernt hatte. Seine Geschäftsreisen führten ihn immer wieder hierher. Die Landessprache beherrschte er bereits fließend.

Gegenüber vom Bahnhof befand sich ein riesiges Handelszentrum, dessen ganzer unterer Stock von einem Schnellrestaurant ausgefüllt wurde. Nepokorny überquerte die Straße, nahm seinen Hut ab und betrat das Gebäude. Am Morgen war es gewöhnlich voller Leute. Auch zu Mittag saßen viele an den Tischen, allerdings oft vor leeren Tellern, weil die Köche um diese Zeit schon etwas erschöpft waren und keiner von ihnen sich mehr die Mühe machen wollte, den Kopfsalat zu waschen oder die Kartoffeln zu kochen und in Scheiben zu schneiden. Sie bekamen ohnehin nur selten dafür bezahlt, und die Gäste hatten kein Recht, sich zu beschweren, schließlich zahlten sie ja nicht. Abends war das Gebäude wie ausgestorben. Nachdem Nepokorny festgestellt hatte, daß der Lift nicht funktionierte, ging er zu Fuß in den dritten Stock. Hier befanden sich einige kleinere Geschäfte. Nepokorny betrat zunächst den Lebensmittelladen. Es war einer von den Läden, die äußerlich an einen Supermarkt erinnern, in denen es aber keine Selbstbedienung gibt. Stattdessen mußte man zuerst bei der Kassa seine Wünsche angeben und sich ein Formular holen, mit dem man dann die einzelnen Waren anforderte. Der Laden war wie immer menschenleer, aber Nepokorny gab so schnell nicht auf. Er schaute sich die Regale genauer an. Es war alles da: Gemüse, Brot, Wurst, Milchprodukte, Eier und Getränke. Da soll noch einmal jemand sagen, die Planwirtschaft funktioniere nicht, murmelte er mit Genugtuung in seinen Vollbart. Und griff dabei nach einer besonders saftigen Orange, als er plötzlich von großer Müdigkeit übermannt wurde und auf einer Holzkiste Platz nehmen mußte. In diesem Moment betrat eine junge Kundin den Laden. Nepokorny wäre beinahe eingenickt, aber die junge Frau erweckte seine Aufmerksamkeit, und er erhob sich von seiner Kiste und bewegte seinen schweren Körper auf die schlanke Gestalt zu, um sie um Hilfe zu bitten. Jetzt erst richtete sich die Verkäuferin hinter dem Ladentisch auf. Sie war offenbar eingeschlafen und hatte die ganze Zeit mit hängendem Kopf an der Kassa gelehnt. Sie bügelte mit den Fingern ihre Bluse zurecht und begrüßte ihre Kunden: Womit kann ich dienen? Nepokorny, erleichtert, nicht länger warten zu müssen, bat entschlossen um zwei Semmeln und eine Flasche Himbeerlimonade. Einen Augenblick, bitte, antwortete die Verkäuferin lächelnd. Ich werde ihren Wunsch umgehend der Zentrale melden. –Sie griff zum Telefon und tippte eine Nummer ein. Daraufhin saß sie einige Minuten lang still und fuhr dann umso energischer hoch, als sich endlich jemand zu melden schien: Zentrale? Hallo! Wieder war es einige Zeit still im Laden. Dann löste sich plötzlich die Verankerung der Deckenbeleuchtung, die gesamte Vorrichtung fiel geräuschvoll zu Boden, und es wurde schlagartig dunkel im Raum. Fluchtartig verließ Nepokorny den Laden und beschloß, doch lieber im Restaurant zu frühstücken. Aber da hörte er hinter sich schnelle Schritte. Die Verkäuferin war ihm gefolgt. „Hören Sie, mein Herr“, schalt sie, „Sie können nicht einfach den Laden wieder verlassen, ohne etwas zu kaufen! Solche Manieren sind bei uns nicht üblich!“ – „Ich dachte, Sie hätten einen Stromausfall“, entschuldigte sich Nepokorny, „können Sie mir denn unter solchen Umständen etwas verkaufen?“ Die Verkäuferin verstummte und ließ Nepokorny stehen. Dieser hatte es jetzt umso eiliger, das Gebäude zu verlassen. Lieber blieb er hungrig, als sich noch weitere Schwierigkeiten einzuhandeln. Nun mußte er ins Stadtzentrum fahren, wo sich eines der Außenhandelsbüros des Unternehmens befand, für das Nepokorny arbeitete. Als er sich der Metrostation näherte, hörte er über die Lautsprecher die Durchsage: „Sehr geehrte Fahrgäste! Der gesamte Metroverkehr ist bis auf weiteres eingestellt. Wir bitten Sie, auf  Straßenbahn- und Autobuslinien auszuweichen und danken für Ihr Verständnis.“ -Bald darauf stieg Nepokorny hungrig und schlechter Laune in die Straßenbahn Nr. 25. Zuerst erschien alles wie üblich, aber irgendetwas an der Stimmung im Waggon kam ihm seltsam vor. Obwohl er nicht hören konnte, worüber die Fahrgäste sprachen, hatte er das Gefühl, sie redeten alle über ein und dasselbe. Tatsächlich, als Nepokorny sich auf einen Platz an der Rückwand des Wagens setzte, bemerkte er, daß jeder der Fahrgäste mit jedem der anderen bekannt zu sein schien. Sie nickten einander zu, lächelten einender an, eine Frau gab einer anderen im vorderen Teil des Wagens Zeichen. Erst jetzt fiel Nepokorny auf, daß viele der Fahrgäste über den Mittelgang hinweg mit anderen sprachen. Sie schienen nicht aufgeregt, sondern ruhig und freundlich. Es hörte sich an wie eine gemütliche Unterhaltung bei Kuchen und Kaffee. Nepokorny stellte fest, daß, seit er mitfuhr, kein einziger Fahrgast aus- oder eingestiegen war. Als er selbst schließlich an der achten Station aussteigen mußte, war er beinahe erleichtert. Vorsichtig stand er auf und ging zur Türe. Er sah seine Spiegelung in der Glastüre. Durch seine Reflexion erkannte er zugleich draußen eine Straße, die ihm auf der Strecke der Linie 25 bisher noch nie aufgefallen war. Er las der Reihe nach die Aufschriften auf den Geschäften, die Werbung auf den Plakaten, die Straßennamen...alle waren ihm unbekannt. Hatte sich Ostrograd so sehr verändert, seit er es vor zwei Monaten zuletzt gesehen hatte? Oder war Nepokorny in die falsche Straßenbahn gestiegen? Hastig drückte er den Knopf, um die Tür zu öffnen. Doch jetzt erschien in roten Buchstaben auf der Anzeigetafel über dem Druckknopf die Aufschrift: Zug hält nicht. Ausgang wegen Umbauten gesperrt. –Es muß doch ein Traum sein!, dachte Nepokorny. Nichts weiter als ein Alptraum! –Doch in diesem Moment bog die Straßenbahn unerwartet nach rechts ab und fuhr dabei so schnell um die Kurve, daß Nepokorny gegen die Wand des Wagens geschleudert wurde und mit dem Kopf auf die Metallstange prallte, an der der Entwerter befestigt war. Der Schmerz, den er beim Aufprall spürte, war so real, daß sich er von nun an sicher war, nicht zu träumen, was ihn nur noch mehr beunruhigte. Es kam ihm der Gedanke, die Notbremse zu ziehen. Als er tatsächlich nach dem Hebel griff und ihn mit aller Kraft nach unten zog, blieb die Straßenbahn mit einem Ruck stehen. Nepokorny warf sich gegen die Wagentür, die seinem Körpergewicht nachgab, und stolperte auf die Straße. Er muß wohl noch unter Schock gestanden haben, als er, ohne sich umzuschauen, über die neben den Schienen verlaufende Fahrbahn lief und kurz darauf in einer Seitengasse verschwand.

Als Nepokorny nach einiger Zeit wieder zur Vernunft kam, mußte er feststellen, daß er seinen Termin im Außenhandelsbüro versäumt hatte. Zum ersten Mal empfand er in diesem Moment eine seltsame Gleichgültigkeit. Er überlegte, was er von nun an mit sich anfangen sollte. Der Himmel hatte sich verdunkelt. Graue Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben, und es begann zu regnen. Nepokorny schlenderte die Gasse entlang und las dabei interessiert die Aufschriften auf den Geschäften und die Straßenschilder. Alle Straßen in Ostrograd waren nach berühmten Künstlern benannt. Nepokorny kam zu einem Park. Neben einem kleinen Teich standen zwei Eichen, die hin und wieder wie aus Langeweile einige braungefärbte Blätter fallenließen.

Die Wasseroberfläche war fast schon zur Gänze mit Herbstlaub bedeckt. An dem Teich stand eine Bank. Auf der Bank saß jemand und las Zeitung, und Nepokorny fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, sich dazuzusetzen; es war ihm unheimlich. Er setzte sich trotzdem, weil er noch immer müde war, und der Mensch  neben ihm blickte kurz auf. Nepokorny versuchte zu lächeln. Doch was nun passierte, war nicht real. Der Mann, der neben ihm auf der Bank saß, schaute ihn an, und sein Gesicht veränderte sich dabei langsam. Die Nase wurde länger, und auch die Augen veränderten ihre Form. In so einem Fall, dachte Nepokorny, ist es am besten, die Leute anzusprechen. Entschuldigen Sie, sagte er stockend. Der Mann warf ihm einen fragenden Blick zu, und Nepokorny überwand sich noch einmal und fragte: „Wo sind wir hier?“ –Der Mann lächelte. Vielleicht war es nur der Schatten der Bäume, der sein Gesicht so verändert wirken ließ? Nepokorny verstand die Antwort des Mannes nicht und verzichtete darauf, ein zweites Mal zu fragen.

Irgendwann später fand er sich wieder auf der Bank, es war dunkel geworden, und er spürte weder Wärme noch Kälte. Die langen Schatten der Bäume und die knisternden Geräusche, die aus allen Richtungen zu kommen schienen, schreckten ihn nicht, und selbst als eine der beiden Eichen einen ihrer langen Äste nach dem Baum neben ihr ausstreckte und ihn wie einen Arm um dessen Krone legte, kümmerte das Nepokorny nicht weiter.  Erst als er bemerkte, daß er seine Reisetasche nicht bei sich hatte, wurde er richtig wach. Die Tasche war tatsächlich verschwunden. Nepokorny sprang auf und lief zur Straße. Er überlegte eine zeitlang, was er tun sollte, und beschloß dann, wenigstens seinen Chef anzurufen und ihm zu erklären, was ihn daran gehindert hatte, seinen Termin einzuhalten. Glücklicherweise trug er sein Adreßbuch wie immer bei sich. Auch die Suche nach einer Telefonzelle war erfolgreich. Da es schon sehr spät war, versuchte Nepokorny gar nicht erst, seinen Chef im Büro zu erreichen, und wählte gleich dessen Privatnummer. Scharowitsch meldete sich sofort. Obwohl seine Stimme etwas verschlafen klang, schien er keineswegs verärgert zu sein und entschuldigte sich seinerseits, daß es ihm unmöglich gewesen sei, Nepokorny zur vereinbarten Zeit im Außenhandelsbüro zu empfangen. Er war hocherfreut, so teilte er Nepokorny mit, daß ihn dieser trotz allem über seine Ankunft in Ostrograd informiert habe. Er hätte ihm nämlich, sprach Scharowitsch weiter, ein besonderes Angebot zu machen. „Unsere Firma braucht Mitarbeiter wie Sie, Herr Nepokorny. Ich wäre bereit, Ihnen das Vierfache ihres bisherigen Gehalts zu bezahlen, sollten Sie sich ab dem kommenden Montag als Handelskorrespondent unserer Firma zur Verfügung stellen.“ –Dieses Angebot kam für Nepokorny völlig unerwartet; er war daher zunächst verständlicherweise etwas verunsichert. In diesem Kaff würde er keine zwei Tage mehr verbringen, das stand für ihn fest. Sein Verstand sagte ihm jedoch, er solle nichts überstürzen, und so antwortete er höflich, er werde sich die Sache noch überlegen. In diesem Moment fuhr ein Taxi um die Straßenecke und blieb einige Meter vor der Telefonzelle in der Dunkelheit stehen. Nepokorny beeilte sich, das Gespräch zu beenden, und lief auf das rettende Gefährt zu. „Zum Bahnhof“, orderte er keuchend und schlug die Hintertür des Wagens zu. Das Geld in seinem Portemonnaie reichte gerade aus, das Taxi und eine Fahrkarte nach Wien zu bezahlen. Am Bahnhof angekommen, lief Nepokorny sofort zum nächsten Schalter und bat um eine Karte für den Zug um null Uhr drei über Lundenburg nach Wien. „Ihren Passport, bitte“, ertönte die Antwort der Kassierin durch ein Mikrophon in der Glasscheibe. Nepokorny griff in die Manteltasche, erst in die innere, dann in die äußere, und schließlich in die Hosentaschen, bis ihm klar wurde, daß sich sein Paß wohl noch in der verlorenen Reisetasche befinden mußte. Jetzt reicht´s!, dachte er nur noch und rannte einfach davon. Besinnungslos lief er die Treppe hinunter zu den Bahnsteigen und stürzte sich in den nächstbesten Zug, der sich als Moskauer Expreßzug erwies und gleich darauf losfuhr. Kurz vor der Landesgrenze wurde Nepokorny dann etwas unsanft von drei Polizisten, von denen einer weiblich war, wieder aus dem Zug hinausbefördert. Der Vorteil daran war, daß er so zumindest wußte, in welchem Land er sich befand, und außerdem in Grenznähe bestimmt ein billigeres Hotel finden würde als in der Hauptstadt. Tatsächlich, gleich nachdem er sich an einem Stand ein dickes Käsebrot gekauft hatte, entdeckte er gar nicht weit vom Bahnhof an einer Straßenecke ein kleines Schild, auf dem er im Dunkeln die Aufschrift „Hotel“ erkennen konnte. Er hatte Glück, und man fragte ihn nicht nach seinem Reisepaß. Offensichtlich hielt man ihn für einen Einheimischen, was auch der ausgesprochen günstige Preis des Zimmers vermuten ließ (Nepokorny wußte freilich seit langem, daß Einheimische hierzulande bei weitem nicht so viel für ein Hotelzimmer bezahlen mußten wie Ausländer für das gleiche Zimmer). Aus diesem Grund störte es ihn nur wenig, als er erschöpft im Zimmer ankam, den Wasserhahn aufdrehte und feststellen mußte, daß das Warmwasser dunkelbraun war. Er ließ sich auf das Bett fallen, und kurz darauf übertönte sein Schnarchen sowohl die knarrenden Geräusche des Bettgestells als auch das Rauschen in der Zentralheizung.

Am Vormittag weckte ihn eine Alarmsirene. Einen Moment lang war sich Nepokorny nicht im Klaren darüber, wo er sich befand, deshalb warf er einen Blick aus dem Fenster. Eine graue Fabriksstadt lag vor ihm. Keine zwei Kilometer entfernt ragten vier gigantische Zylinder in die Luft und verbreiteten einen eigenartigen Dunst über der Stadt. Es war also real. Nepokorny befand sich immer noch in einer fremden Stadt, ohne Papiere, fast ohne Geld und ohne die Hoffnung, in nächster Zeit nach Hause zurückkehren zu können. Ihm war klar, daß er den Posten als Handelskorrespondent wohl annehmen mußte, also checkte er kurz darauf aus und fuhr mit dem nächsten Zug zurück nach Ostrograd, wo er seinen Chef kontaktierte und ihm mitteilte, daß er den Job annehmen würde. Sie vereinbarten für den selben Tag ein Treffen im Außenhandelsbüro, und um halb vier stand Nepokorny tatsächlich bereits an der Rezeption im Wartesaal des Firmengebäudes und fragte nach Scharowitsch.

Dieser ließ ihn in sein Büro bitten, um mit ihm die Einzelheiten zu besprechen. Nepokorny war zufrieden, als er hörte, daß seine Aufgabe lediglich darin bestehen würde, von Montag bis Freitag Firmenberichte und Protokolle zu verfassen. Und er war geradezu erfreut, als ihm Scharowitsch anbot, ihm für einen Teil des Gehalts eine Dienstwohnung im Stadtzentrum zur Verfügung zu stellen, die er sofort beziehen könnte. Nach Dienstschluß verließ Nepokorny zusammen mit Scharowitsch das Gebäude, und Scharowitsch schlug vor, Nepokorny gleich zu seiner Dienstwohnung zu bringen. Dieser nahm dankend an.

Gegen acht Uhr sah Nepokorny zum ersten Mal seine neue Wohnung, ohne zu ahnen, wie viele Monate er noch in ihr verbringen würde. Groß war die Wohnung nicht. Das einzige Zimmer stand leer bis auf ein Bücherregal und einen altmodischen Armsessel. Das Badezimmer und die Küche schienen dagegen intakt zu sein, und so dankte Nepokorny seinem Arbeitgeber herzlich und verabschiedete ihn mit dem Versprechen, Montags pünktlich im Büro zu erscheinen. Erst als Scharowitsch die Wohnung verlassen hatte, begann Nepokorny sich Gedanken darüber zu machen, wie er das Wochenende verbringen würde. In seinem Portemonnaie fand er gerade noch 250 Srebro, was kaum für drei Tage reichte. Als Nepokorny abends endlich jene Dusche nahm, auf die er seit drei Tagen gehofft hatte, mußte er leider feststellen, daß der Warmwasservorrat nach wenigen Minuten erschöpft war. Zu alledem begann jetzt jemand aus der Nachbarwohnung mit einem harten Gegenstand an die Wand zu klopfen. Nepokorny seufzte und drehte den Hahn ab.  Zum ersten Mal seit drei Tagen war er heute richtig hungrig, also ging er in die Küche und sah sich um. Dann fiel ihm wieder ein, daß er die Wohnung ja gerade erst bezogen hatte. Aus Neugierde öffnete er jetzt trotzdem alle Schubladen, die er in der Küche finden konnte. In einer von ihnen fand er ganz hinten ein Buch mit dem Titel „Die Befriedigungsgesellschaft“, aus dem einige unbeschriebene Postkarten fielen, als er es öffnete. Eine davon zeigte den Kölner Dom und war mit einer deutschen Briefmarke frankiert, aber wie die anderen weder beschrieben noch gestempelt. Die anderen beiden Karten zeigten Städte, die Nepokorny noch nie gesehen hatte. In der untersten Schublade fand er schließlich einen zerschlissenen Kopfpolster, der die Form eines Apfels hatte und außerdem mit einem merkwürdigen Gesicht bedruckt war. Nepokorny nahm seinen Fund zum Anlaß, das Licht auszuknipsen und sich auf seinem Mantel, den er auf dem Küchenboden ausbreitete, auszustrecken, wobei er den seltsamen Apfel-Polster als Kopfkissen verwendete. Bald darauf begann er zu träumen...

„Du machst dir zu viele Gedanken, Schatz“, rief Natalie aus dem Vorzimmer. „Du wirst Ostrograd lieben!“ 

Sie kam mit zwei Gläsern Rotwein zurück ins Zimmer. -„Ostrograd ist ein Alptraum“ murmelte Nepokorny schlechtgelaunt. „Das kannst du dir nicht vorstellen, wenn du nicht selbst dortgewesen bist.“ Er nahm einen Schluck von dem Rotwein und mußte niesen. „Komm, trinken wir auf deinen Erfolg in Ostrograd“, bestand Natalie. Nepokorny leerte das Glas mit einem Schluck. Dann stand er auf und streckte sich aus. Seine Finger berührten die Zimmerdecke und hinterließen dabei farbige Ringe, die sich wie auf einem See in alle Richtungen verbreiteten. „Ich muß dir was gestehen“, sagte Natalie in einer seltsam tiefen Stimmlage, „ich hab dir was in den Wein getan.“ Nepokorny sah sich selbst als Adler. Seine Flügel bedeckten den ganzen Fußboden. Er fühlte sich gefangen und beengt. Doch in diesem Moment löste sich das Zimmer in Luft auf, und er flog über Ostrograd. Ein breiter, grauer Zylinder kam ihm in die Quere. Nepokorny konnte nicht mehr bremsen und prallte mit seinem gesamten Gewicht gegen die Betonwand, die sich plötzlich in alle Richtungen zu erstrecken schien.

„Du wirst Ostrograd lieben...“, dröhnte die Wand. -Warum träume ich jetzt von Natalie, fragte sich Nepokorny im Halbschlaf. Diese Sache liegt doch jetzt bestimmt schon zehn Jahre zurück... und er schlug die Augen auf und stellte fest, daß es schon hell geworden war.

Später ging Nepokorny auf die Straße, um zumindest das Wichtigste für das Wochenende zu kaufen. Außer einigen kleinen Läden mit der Aufschrift „Samstags geschlossen“ gab es in der Ulitza Tscherna auch einen Supermarkt, wo Nepokorny fast 130 Srebro für Nahrungsmittel ausgab und dann beschloß, sich zumindest 100 Srebro zu sparen. Als er wieder in seiner neuen Wohnung ankam, fiel sein Blick auf das Buch „Die Befriedigungsgesellschaft“, das er am Vortag auf dem Küchentisch liegengelassen hatte, und gleich nach dem Frühstück begann er darin zu lesen. Es handelte sich um einen Zukunftsroman, in dem die Männer die absolute Macht über die Frauen ergriffen und jedes Mädchen gleich nach der Geburt von der Außenwelt isolierten und in einer mit Nährlösung gefüllten Eprouvette großzogen. Die Mädchen bekamen nur das Lebensnotwendige und waren ihr Leben lang in der Lösung eingelagert, konnten also weder sprechen noch gehen und wurden zu Vermehrungsmaschinen umfunktioniert. –Nach zwei Kapiteln legte Nepokorny das Buch beiseite. Er wußte nicht viel damit anzufangen und war sich auch nicht sicher, was er davon halten sollte. Deshalb betrachtete er stattdessen noch einmal die drei Ansichtskarten, die er in dem Buch gefunden hatte. Dabei kam er auf den Gedanken, seinen Freunden und Verwandten in Wien zu schreiben. Er dachte daran, auch Natalie, von der er seit Jahren nichts gehört hatte, eine Karte zu schicken, verwarf den Gedanken aber wieder. Die deutsche Karte, die den Kölner Dom zeigte, adressierte er schließlich an seinen Bruder, auf die anderen beiden Karten schrieb er Grüße an Freunde.

Montags kurz vor acht lief Nepokorny die Treppe hinauf  ins Büro. An seinem Arbeitsplatz saß eine junge Angestellte, die nicht einmal aufsah, als er den Raum betrat. Erst als Nepokorny grüßte, stand die junge Frau auf und stellte sich vor. Sie war eine Praktikantin aus London, und ihr Name war Lucy. Umständlich erklärte sie Nepokorny, daß es im Büro nur einen Arbeitstisch mit einem Computer gab, den sie sich teilen würden. Dieser runzelte die Stirn und suchte nach einem zweiten Stuhl. Nach kurzer Zeit kam dann Scharowitsch  ins Zimmer. Er trug unter dem rechten Arm einen Drehsessel und unter dem linken einen Stoß handgeschriebener Zettel, die er Nepokorny in die Hand drückte, und erklärte, daß Nepokornys Aufgabe darin bestehen würde, die wichtigsten Daten aus dem Manuskript herauszusuchen und dann in deutscher Sprache eine Zusammenfassung davon zu schreiben. Lucy bestand darauf, Nepokorny dafür den Computer zu überlassen und schrieb ihren eigenen Bericht auf einer Schreibmaschine, die sie aus dem Schrank geholt hatte. So hatte Nepokorny seine Arbeit nach wenigen Stunden beendet. Als er seinen Bericht in Scharowitschs Büro brachte, fiel sein Blick auf eine Tür mit der Aufschrift „psychologische Beratungsstelle“. Da werde ich früher oder später bestimmt landen, ging es ihm durch den Kopf.

Am Dienstag begleitete Nepokorny seine neue Arbeitskollegin in einer Pause in ein kleines Café. Er schilderte ihr die Erfahrungen der letzten Tage. Lucy beteuerte, sie kenne keine schönere Stadt als Ostrograd und könne kaum glauben, was Nepokorny ihr erzählt hatte. Was den verlorenen Reisepaß anging, sei es doch bestimmt kein Problem, bei der österreichischen Botschaft einen neuen Paß zu bekommen. „Meinen Sie wirklich?“ fragte Nepokorny mißtrauisch. „Aber natürlich!“, entgegnete Lucy lächelnd, „ich glaube, Sie machen sich da zu viele unnötige Gedanken!“

Am Mittwochnachmittag, nachdem er von seinem Chef einen Vorschuß von 20 000 Srebro erhalten hatte, kaufte Nepokorny zunächst einen neuen Stadtplan und suchte darin nach der österreichischen Botschaft. Dann ging er zur Polizei und meldete den Verlust seines Reisepasses. Allein die Verlustanzeige kostete ihn fast tausend Srebro. Danach fuhr Nepokorny erstmals zur österreichischen Botschaft. Vor einem riesigen, weiß gestrichenen Gebäude stand ein hoher Zaun aus schwarz lackiertem Eisen. Nepokorny ging über den Rasen zum Tor und las dort auf einem goldenen Schild, daß die Botschaft nur bis zwei Uhr geöffnet hielt, und zwar von Montag bis Donnerstag.

Am Donnerstag kam Nepokorny deshalb während der Mittagspause. Eine meterlange Menschenschlange reichte von dem überdimensionalen Eisenzaun bis zur Straße, und ein älterer Herr am hinteren Ende der Schlange erklärte Nepokorny, daß die Kunden hier nur der Reihe nach eingelassen wurden. Nepokorny seufzte und stellte sich hinten an. Er beobachtete, wie alle paar Minuten jemand aus dem Haus kam und das Tor für den Nächsten aus der Reihe öffnete. Es begann zu regnen. Als die Botschaft nach einer halben Stunde geschlossen wurde, stand Nepokorny immer noch draußen angestellt. Achselzuckend drehte er sich um und fuhr zurück ins Büro.

Mit der Zeit wurde es für Nepokorny zur Routine, in jeder Mittagspause zur Botschaft zu fahren und dort eine halbe Stunde täglich im Freien zu warten, und obwohl es langsam Winter wurde und ihm die Wartezeit mit jedem Tag länger erschien, gab er nicht auf und wurde eines Tages tatsächlich eingelassen. Im Foyer saß hinter  einer Glasscheibe eine Frau, der er zu erklären versuchte, unter welchen Umständen er seinen Paß verloren hatte und wie dringend er einen neuen brauchte. Sie antwortete auf Wienerisch: Und wieso kumman´s do erst nach sechs Wochen? Nepokorny hatte tatsächlich vergessen, daß er ja nun deutsch sprechen konnte. Etwas verwirrt antwortete er, daß er sein Büro nur während der Mittagspause verlassen konnte und zu dieser Zeit bisher nie eingelassen worden war. Die Angestellte erklärte ihm, er müsse sich zunächst ausweisen, und zwar mit seinem Reisepaß. Verzweifelt setzte Nepokorny erneut an, der Dame klarzumachen, daß er gerade diesen ja verloren hatte. Sie bestand darauf, daß Nepokorny sich in jedem Fall auszuweisen hatte, und wenn er keinen Reisepaß mehr hätte, habe er zumindest eine Bestätigung von der zuständigen Polizeidirektion in Wien vorzulegen, die er persönlich im 13. Wiener Gemeindebezirk anzuforden habe. –An diesem Punkt wurde Nepokorny klar, daß jeder weitere Versuch, auf legalem Weg zurück nach Wien zu kommen, sinnlos war. Und so plante er von diesem Tag an seine Flucht aus Ostrograd. Er beschloß, einfach am nächsten Sonntag in den Zug nach Wien zu steigen und sich im Zug zu verstecken.

Am Sonntagmorgen versperrte Nepokorny zum letzten Mal die Tür in seiner Dienstwohnung, fuhr mit einem gepackten Rucksack auf dem Rücken ins Büro und ließ Scharowitsch die Wohnungsschlüssel übergeben. Ohne sich persönlich von Lucy zu verabschieden, fuhr er gleich darauf mit der Straßenbahn Nr. 25 zum Bahnhof. Dort gab er seine letzten 55 Srebro für ein Getränk und ein Käsebrot aus. Dann ging er nachdenklich hinunter zum Bahnsteig und wartete auf den Zug nach Wien. Mit 10 Minuten Verspätung fuhr der Zug schließlich ein, und Nepokorny stieg ein, verschwand auf der Zugstoilette und versperrte die Tür. Nach einigen Minuten hörte er von draußen laute Schritte und die Worte: „Guten Tag, Fahrscheinkontrolle!“ Er muß wohl stundenlang von innen an der Türe gelehnt und gelauscht haben, denn irgendwann wurden dann auch die Pässe kontrolliert.

Nepokorny hörte, wie eine Frau sagte, es sei anscheinend jemand auf der Toilette. Und dann rief plötzlich einer: „Überprüfen Sie bitte mal den Paß von Herrn Walter Nepozorny. Der Mann hat einen österreichischen Paß und versteht kein Wort deutsch!“ –Und dann, nach einer längeren Pause, vernahm er die Worte: „Der Paß ist nicht registriert. Moment, der ist ja gefälscht, sehen Sie, hier ist etwas ausgebessert worden! Sie steigen jetzt erst mal aus und kommen mit uns aufs Revier.“ -Diesen Moment nützte Nepokorny, unbemerkt die Toilettentür zu öffnen und zum Ausgang am Ende des Waggons zu laufen. Der Zug blieb kurz darauf stehen, und Nepokorny sprang auf den Bahnsteig und folgte den Polizisten, die einige Meter weiter einen Mann mit Vollbart aus dem Zug schubsten. Die Polizisten zerrten den Mann, der heftig Widerstand leistete, an das andere Ende des Bahnsteigs, wo sich das Polizeirevier befand, und verschwanden mit ihm in einer Türe. Nepokorny blieb draußen stehen. Dann lief er zum Fenster des Wachzimmers, das nur einen spaltbreit offenstand. Durch den Spalt schaute er in das leerstehende Zimmer, wo sich im nächsten Moment eine Tür öffnete. Einer der Polizisten trat ein und ließ einen Paß auf den Tisch fallen. Dann verließ er den Raum wieder. Nepokorny wußte, daß es von den nächsten zwei Sekunden abhing, ob er den Rest seines Lebens in Wien, in Ostrograd oder im Gefängnis verbringen würde. Deshalb stieß er mit aller Kraft das Fenster auf, schwang sich über das Fensterbrett in das Zimmer und schnappte sich den Paß, den der Polizist auf dem Tisch hatte liegenlassen. Dann hörte er vor der Tür Stimmen, lief zum Fenster und sprang vom Fensterbrett auf den Bahnsteig. Ohne sich umzuschauen, lief er davon, weit weg vom Bahnhof. Er kam an eine befahrene Landstraße und streckte, immer noch im Laufschritt, seinen Daumen in die Höhe. Zwei Autos fuhren an ihm vorbei, das dritte blieb schließlich stehen, und Nepokorny sprang hinein und schrie: „Fahren Sie los in Richtung Wien!“ Die Fahrerin schien ihn nicht verstanden zu haben, stieg aber trotzdem sofort auf das Gaspedal und fuhr los. Als Nepokorny jetzt erstmals einen Blick durch die Rückscheibe wagte, war die Straße hinter ihm leer. Da er nun in Sicherheit war, öffnete er den Reisepaß, den er eben ergattert hatte, auf der Seite mit dem Bild. Dort stand neben einem fremden Foto: Nepozorny, Walter, Geburtsdatum: 1. 4. 1965. Nepokorny untersuchte die Seite genauer und bemerkte, daß sie ungewöhnlich dick war. Sie war anscheinend zweifach mit Klarsichtfolie beklebt worden. Es gelang Nepokorny, die zweite Schicht abzulösen, an deren Innenseite die Änderungen zu erkennen waren, und darunter kam neben Nepokornys Foto auch sein Name zum Vorschein: Nepokorny, Walter. Geburtsdatum: 17. 7. 1965. Die Fahrerin setzte Nepokorny auf der Autobahn ab. Von dort aus fuhr er per Anhalter über die Grenze. Mit seinem Paß gab es keine Probleme, obwohl die Seite mit dem Bild noch etwas verklebt war. Abends nahm ein netter Lastwagenfahrer Nepokorny mit bis Wien. Von dessen Erzählungen über Ostrograd glaubte der Mann zwar kein Wort, aber das war Nepokorny egal. Als er am darauffolgenden Tag seinen Bruder anrief und versuchte, ihm zu erklären, warum er so lange in Ostrograd festgesessen hatte, entgegnete dieser erstaunt: Wieso Ostrograd? Ich dachte, du warst in Köln, du hast mir doch sogar eine Karte geschrieben! Ich habe mich schon gewundert, wieso auf der Karte stand, Du müßtest noch längere Zeit in Ostrograd bleiben. Wo soll das überhaupt sein? „Ist das dein Ernst?“, antwortete Nepokorny verwundert. „Ostrograd ist doch die Hauptstadt von... Moment, wie hieß dieses Land noch gleich...“

„Na klar, Walter. Jetzt erzähl mir bloß noch, daß du dort die ganze Zeit eine Sprache gesprochen hast, die es gar nicht gibt. Du hattest wohl wieder einen deiner berühmten Träume...“

Nepokorny hatte einen Moment lang das Gefühl, sich während seines Auslandsaufenthalts wohl ein bißchen überarbeitet zu haben, deshalb nahm er gleich darauf ein heißes Bad und ging etwas früher schlafen als sonst.   

 

 

 

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