w. wessely
LUCIA UND DER SEEHUND
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edition antilopenart
wien 1997
LUCIA und DER SEEHUND
Vor Jahren hatte sie einen bulligen Fernfahrer geehelicht und wußte so köstliche Geschichten zu erzählen aus fernen Ländern nördlich der Alpen. Ihr Mann hieß Hannibal und er hatte die Alpen schon oft überquert mit seinen Elefanten. Dumm, daß er viel unterwegs war, aber daran hatte sich Lucia schon gewöhnt. "Man hört ja nichts in diesen Sattelschleppern! Man fährt um eine Kurve und es macht krcks! Man denkt sich: Was war das jetzt? Und bleibt stehen und schaut nach. Was war das? Krcks, einfach krcks! Man schaut nach: und sieh da, man hat einen parkenden PKW zur Hälfte aufgeschlitzt. Und was hat man gehört? Nichts, nur krcks!" "Dann hört man ja doch was!" warf der Hofrat ein und strich sich über seinen weißen Schnurrbart. "Ja!" gab Lucia zu. "Aber nur krcks!" Lucia liebte das Café und besonders liebte sie den Platz zwischen den Spiegeln, wo sie sich ins Unendliche gespiegelt sah, oder fast ins Unendliche, denn die Spiegel hingen nicht wirklich parallel, weshalb sich eine Krümmung der Spiegelung ergab, wenngleich der Radius dieser Krümmung etliche Kilometer betrug, wie bei einem unterirdischen Teilchenbeschleuniger. Sogar der Hofrat spiegelte sich, obwohl das Spiegelbild des Hofrats nur wenig Ähnlichkeit mit dem wirklichen Hofrat aufwies.
Der Hofrat Habihnselig trat stets im Steireranzug in Erscheinung. Der Hofrat Habihnselig hatte einen Sekretär, aber der trat nie in Erscheinung. Der Hofrat Habihnselig hieß in Wirklichkeit garnicht Habihnselig, sondern Hänschenklein. Klein Hans also, oder auch: Johann Klein. Jedenfalls, sobald die Woche auf Freitag ging, setzte der sich in seinen Wagen und fuhr nach Venedig. Hofrat Klein betätigte den Blinker und überholte. Und wer saß am Steuer des überholten Wagens? Sein Sekretär, der nie in Erscheinung trat! Hofrat Klein bestieg das Vaporetto in Richtung Markusplatz. Die venezianischen Frauen seines Alters musterten ihn mitleidig. Hofrat Hänschenklein retournierte die Blicke: Nur keine Misericordia! dachte er und strich den weißen Schnurrbart zurecht. Den Schurrbart, den weißen, den Seehundbart. Die runden Brillen trugen zum Seehundäußeren des Hofrats bei, mindestens 33 Perzent. Das Seehundinnere des Hofrats blieb den meisten Menschen verborgen...
Markusplatz, Platzregen, Taubenflug, Regenwurmfüßchen zwischen Regenwurmpfützen. Von Ähnlichkeit und Lüge keine Spur! Der permanent vierradgetriebene Wagen des Hofrats stand in der Garage am Piazzale Roma, Lucia trank ihren Cappucino mit leicht vorgeneigtem Oberkörper, den kleinen Finger sittsam angelegt an den Ringfinger. Sittsamst! Erlauben Sie mal! Der Kellner stolperte über Lucias Stöckelschuhe, die sie seelenruhig von den Füßen gestreift hatte. Seelenruhigst! Erlauben Sie mal!
Der Kellner fing sich mit rotem Kopfe, das Tablett in vogelförmiger Hand, die Gläser klirrten nur ein wenig. RATATOUILLE! schimpfte der Kellner. Das verstand hier keiner und das tat niemandem weh. Hofrat Hänschenklein betrat das mondäne Café, Steirerhut und Gamsbart in der Hand dreht er sich im Kreis und — dank der glorreichen Erfindung des Rapid-Eye-Movements hat er Lucia bald entdeckt! Lucia ihrerseits sieht ihn hilfesuchend an, denn ab jetzt ist der Kellner schlechter Laune. Lucias blasse Haut leuchtet hell heraus aus der Masse. Im allgemeinen sind ja Venezianerinnen nicht sonderlich dunkel, aber Lucias Blässe übertrifft sie alle. Wenn Lucia aufgeregt ist, gibt sie merkwürdige Geräusche von sich, weshalb der Hofrat Seehund sie bei der ersten Begegnung für eine Asthmatikerin hielt. Lucia hatte ihn bald aufgeklärt: Nein, sie sei keine Asthmatikerin, leide nur an einer dezenten Herzschwäche — deshalb sei sie auch so blass. Aber keine Sorge, sie werde nicht umkippen und vom Hocker fallen — Lucia saß in einem Lehnstuhl, als sie das sagte — dann holte sie tief Luft und kiekste. Sie steckte eine Praline in ihren schmalen Mund und lachte.
Denn Hofrat Klein war ein Wirklicher Hofrat, offiziell und per titulum. Der Geschäftsführer, ein Signore Topolino, kam nun dahergewatschelt, der Eindruck des Watschelns entstand primär durch den schwarzen Frack, der ihn in die Nähe würdevoller Pinguine rückte, und bat Signora Lucia, doch liebenswürdigerweise die weinroten Stöckelschuhe wieder überzustreifen, mit untertänigster Rücksicht aufs Bedienungspersonal, er hatte sich sprachlich verheddert, er wollte eigentlich sagen, er bitte untertänigst um Rücksicht aufs Bedienungspersonal, er habe es nicht im Dutzend und sei darauf angewiesen...usw, usf..."Kindskopf!" flüsterte Lucia, als der Signore Geschäftsführer nach zehn bis elf Bücklingen sich zurückgezogen hatte hinter sein Pult im Knie des Cafés.
Man ging über, unter, zwischen und sonstwo, querte Plätze über Wässern unter Kirchen, Kuppeln, Säulen, messerscharfe Gondeln klebten an den Spiegeln, an denen sie hochkrochen, die Schleimspur hinter sich, beladen und unbeladen, man ging über, unter, zwischen nassen Wänden, die mit gilben Schildern versehen Wege wiesen in Sackgassen, deren Ratten schliefen, man ging über... Man querte den Campo S. Maria Formosa, den Campo S.S.Giovanni e Paolo, man ließ sich hinüberrudern nach S.Michele. Über Brücken in die Gondel. Der Hofrat fragte Lucia, mit welcher literarischen Frauenfigur sie sich am ehesten identifizieren könne?
Mit Gundel Gaukeley, kicherte Lucia, nachdem sie röchelnd Luft geholt hatte, die Feuchtigkeit Venedigs war nicht das Wahre für ihre schmetterlingsflügelgleichen Lungen. Später im Restaurant orderte Lucia Lammbraten, Hofrat Seehund bestellte Muscheln und gemischten Salat, dazu eine Flasche Chianti. Nach dem Essen brachte der Piccolo zwei Trockenhauben, denn das Restaurant war alt, das Dach undicht. Was für ein Nachtisch nach all dem Chianti classico! Am Nachbartisch gab es Streit. Eine grellgeschminkte Dame der Halbwelt beschimpfte eine andere grellgeschminkte Dame der Halbwelt, deren Gebiß eine Lücke aufwies, auf das Unflätigste. Hemingway, der zwei Tische weiter mit seiner jungen, adeligen Geliebten saß, kam herüber und ergriff Partei für die Dame mit Zahnlücke. "Quälen Sie sie nicht so!"
Als Lucia und Hofrat Klein wieder trocken hinter den Ohren schienen, verließen sie eiligst das denkwürdige Haubenlokal und kletterten in eine bereitstehende Wasserdroschke. Der Gondoliere händigte Lucia die Morgenausgabe des Corriere della Siera aus:
Eine Super Constellation war kurz nach dem Start in den Shannon gestürzt, wie durch ein Wunder niemand verletzt. In Paris machte ein Rudel Wölfe die Gassen um den Montmartre unsicher. In Wien wiederum hatte ein gewisser Sigismondo Freud eine eigenartige Couch erfunden, eine sprechende Couch, eine sogenannte Seelenlandschafts-Couch...
Venedig im Winter. Der Markusplatz unter Wasser. Stege queren den Platz. Ferne das Treiben des Karnevals. Der Dottore della Peste schläft tief und fest. Dulcinea dito. Die Industrie saugt am Strohhalm des Grundwassers. Die Venen Venedigs.
Dig it.
Regen Regeneration Winter. Plötzlich Schneekristalle auf schwarzem Gondellack. Schneeregen Winter Tod Ratten. Venezianische Ratten. Stakkato. Al dente. Touristenströme al dente.
Auch der Dentist ißt seine Spaghetti Bolognese stets al dente. Im Hotel klingelt das Telefon. Keiner hebt ab. Der Portier ist auf seiner Seelenlandschafts-Couch eingeschlafen. Lucia stellt sich Sigismondo Freud als alten Venezianer vor. Kanäle schlangengleich. RATATOUILLE! Der Kellner aus dem Café Marone warf sich aufs Bett und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Diese Idiotin mit den roten Stöckelschuhen! Die Ähnlichkeit mit Dulcinea war offensichtlich. Und dazu dieser Seehund in der fremdländischen Tracht! Eine Tracht Prügel hätten beide verdient! Und der Chef so devot! Auch ein Idiot! Seelen auf der Flucht. Institution Kaffeehaus. Ohne Egoismus läuft garnichts! Ich geh nach Amerika!
Amerigo Vespucci! Bezopfte Jünglinge. Der Tag ist gelaufen. Exzitationsphase. Selbstdarsteller — lauter idiotische Selbstdarsteller! Der Kellner fiel in tiefen bewußtlosen Schlaf. Diese und jene Einflüsse! Monosyllabismus — Bilderschrift. China ist weit! Ameisen. Tausend interessante Leute. Dialoge en masse — Monologe im Faß. Diogenes. Blaue Ameisen. Quatsch! Ich bin Individualist! Am nächsten Morgen waren die Wolken wie weggeblasen. Pfützen spiegelten die Klarheit des Himmels. Bei Kaffee und Croissants brachen Lucia und der Hofrat — Lucia nannte ihn nun Giovannino — eine Diskussion über das österreichische Modell der Sozialpartnerschaft vom Zaun... "Ritualisierte Spiegelfechterei!" stieß Lucia verächtlich hervor. Hofrat Seehund verwies auf die wertvolle Zeit, die in anderen Ländern durch Streiks verpufft wurde... "Du wärst wohl gern Arbeiterkammerpräsident?" Lucia zog die linke Augenbraue hoch und bekam eine spitze Nase. Hemingway erzählte der Contessa irgendeine Geschichte, die er im Salon Gertrude Steins erlebt hatte, kurz bevor er durch deren Köchin Alice B. Toklas hinausgeekelt worden war. Die Contessa gähnte und fragte, wann er endlich das Perlenohrgehänge kaufen würde, das sie kürzlich bei Harrod's gesehen hatte. Es handele sich genau um jenes, das man auf Vermeers Gemälde "Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge" bewundern könne. Ihre Wangen bekamen die Farbe roter Mayonnaise... (Matisse hätte seine Freude daran gehabt)
Giovannino und Lucia irrten durch die Kanäle. Giovannino berichtete Lucia von einem Dezenien zurückliegenden Bewerbungsgespräch: Um seine Qualifikation im Umgang mit unliebsamen Zeitgenossen zu schildern, hatte er die Formulierung:
"Ich hatte Parteienverkehr" benutzt. "Mit oder ohne Kondom?" war die geistesgegenwärtige Frage des Personalchefs gewesen. Strindberg sein Name. Am Rande. Und wieder der Selleriegeruch, der ihn irritierte. Oder der Geruch nach Rauchwerk? Hannibal sah auf die Uhr und legte ein Schäufelchen zu. Die Tachonadel spulte auf 120 km/h. Er spürte deutlich, wie seine Lider schwer wurden. Kein Wunder nach zwölf langen Stunden hinter dem Lenkrad. Um nicht einzuschlafen, drehte er die Lautsprecher auf volle Lautstärke. "Der ORF sendet Nachrichten. In Syrien seien Veränderungen in Gang, sagte Clinton... In Apulien herrscht Cholera-Notstand. Alle Betroffenen hatten rohen Fisch gegessen... In den USA gibt es erstmals mehr als 1 Million Strafgefangene, davon 6 % Frauen...Von Salzburg ostwärts kommt zumindest teilweise die Sonne zum Vorschein. Am Nordrand der Alpen Schneefall bis auf 1000 Meter herab. Am kommenden Sonntag etwas milder..."
Ein Faun, eine Fee und ein Alaunstein auf zwei Beinen durchmaßen das All, um in Venedig zu landen. Der Doge brachte den Zaubervogel. Der Vogel freute sich, den Faun zu sehen. Eigentlich war der Doge ja ein Poltergeist, als er aber den Vogel brachte, verhielt er sich ruhig, denn er jubilierte innerlich: in wenigen Stunden würde er Dulcinea treffen, die geliebte Dulcinea... Der Sekundenzeiger der Uhr drehte bedächtig und gemessenen Schrittes seine Runden. Nur keine zweckorientierten Konstruktionen! schien er zu sagen. Die Sirene eines Feuerwehrwagens hatte ihn geweckt. Stell Dir vor, stets dreht er seine Runden und niemand beachtet ihn!
Lucia weinte. Aus Solidarität mit dem Himmel. Der Hofrat übte sich in Hoffart. Der Hofrat Hänschenklein Gingallein...
Hofrat Klein steckte in seinem Steireranzug wie in einer Rüstung. "Scheiß Rüstung!" dachte er plötzlich, am Fenster stehend, hinter sich die weinende Lucia.
"Scheiß Rüstung!" dachte Giovannino und begann, sich auszuziehen. Er öffnete das Fenster, holte aus und warf den Anzug in den Canale Grande... Er sah, wie er sich langsam vollsoff, der teure Steirer, er soff sich voll aber versank nicht. Er schaukelte dicht unter der Oberfläche zwischen pechschwarzen Gondeln, auf denen rosa Schnee lag. Wie die Reste eines atomisierten Ertrunkenen. Giovannino schüttelte staunend den Kopf. Lucia hörte auf zu weinen. "Jetzt hast du nichts mehr zum Anziehen!" schniefte sie und kiekste vernehmlich. "Ich geb dir Jeans und einen Pulli von mir!" "Wird mir zu klein sein!" krächzte Klein. "Still, Hofratte und Entertainer der besonderen Art!" kicherte Lucia und überreichte dem mit einer weißen Boxershort mit roten Herzen bekleideten Giovanni die versprochenen Sachen. "Nur keine übertriebene Miserecordia!" Hannibal schaltete das Fernlicht ein. Nachrichten. Wieder Nachrichten. "Ein Steirer und ein Kärntner haben eine Bank in der Währinger Strasse in Wien überfallen. Der eine wird von einem Polizisten niedergestreckt, der andere flüchtet in einen Hauseingang und erschießt sich selbst." Jupiter und Mars. Silberpapier. Kuhhaut im Kleinen. Brotdose. Eine Tasse Kaffee: ein melangefarbener Planet. Pomona. Mona Lisa. Mona Po. Marillen-Konfitüre: Lauda Air läßt grüßen. Schubumkehr. Alptraum Schubumkehr. China Kohl. Schon wieder Kohl. Kohl zu Besuch in China. Jetzt wollen die Leute aus Audili-Djen den Chinesen Kaffee (!) verkaufen. Zwei Schuhverkäufer in Afrika: der eine telegraphiert: Schickt keine Schuhe, hier gehen alle barfuß! Der andere telegraphiert: Schickt eine Million Paar Schuhe, hier gehen alle barfuß! Der Kellner rotiert. Eine Prise Salz. Tomatenketchup. Drei Semmeln im Korb. Estragon Senf. Lord Estragon: Beckett grüßt Macbeth...Knoblauch-Presse! (Gute Zeitung! Was liest der gebildete Vampir? Natürlich Knoblauch-Presse!)
Öl. Sonnenblumenöl. Messer mit und ohne Schliff. Wellenschliff.
Löffel. Eine halbe Zwiebel, Petersilie im Glas, leere Salatschüssel. Regentropfen auf dem Fensterbrett. Kaffeefilter auf Styroportasse, mit Folie garniert. Teekanne. Wasserglas mit Luftbläschen, als optisches Instrument nutzbar gemacht: die Verdoppelung des Zuckerdosendeckels. Speckschwarte, Radieschenreste, Blattsalatstrunk, Zwiebelschalen. Besteckstrauß in blauem Häferl.
"Nun Giovanninolein, wie passen denn die Sachen?" "Ganz ausgezeichnet! Molto bene!" Giovanni sah in Jeans und Pulli mindestens zehn Jahre jünger aus.
Er wölbte die Brust und fühlte sich prächtig. Er rasierte sich nun nicht mehr und ließ sich einen Stoppelbart stehen. Den weißen Schnurrbart, der sowieso nur angeklebt und also nicht ganz echt gewesen war, warf er in den Mistkübel, in den Treteimer, auf den Müll. Lucia ihrerseits erhob sich vom Diwan und warf ihr Herzleiden weg. Ihr Röcheln jedoch, an das Giovanni sich schon gewöhnt hatte und das ihm lieb geworden war, behielt sie bei. Überhaupt wenn sie längere Sätze begann, röchelte sie zuvor vernehmlich. Die Biennale rief. Der Lido und der Campanile. Ponte Rialto und die Seufzerbrücke. Der Dogenpalast und die öffentliche Brause. Wenn die Gondeln Schneehauben tragen... Die Polizisten wecken die Schläfer am Hauptbahnhof, die Schönen der Nacht gehen schlafen, erschöpft sinken sie ins Kissen, dennoch möchten sie ihren Beruf nicht missen. Altersschwache Palazzi blicken traumverloren aufs offene Meer. Frierende Matrosen am Quai sehnen sich nach dem Land der Korinthen.
Gilbes Licht streift die Kanäle. Schritte knirschen im frischen Schnee gefallener Gassen. Gräfliches Winken der Melancholie. Patricia Highsmiths Ratte verschwindet in ihrem Loch. Der kalte Wind streicht um die Säulen und bildet kristalline Luftwirbel. Aus versteckten Winkeln springt das konservierte Lachen des Karnevals und stürzt sich auf den spät heimkehrenden Spieler. Lange vergessene Klischees feiern fröhliche Urständ´, die große Pupille der Schlaflosigkeit verschlingt die Strukturen des Zufalls. Ein müdes Lächeln begleitet die Szene. Die Masken, blöde hohl und leer verweigern stoisch ihren Dienst. Roter, süßer Wein ergießt sich aus zerbrochenen Flaschen aufs Pflaster notdürftig verschleierter Erinnerung. Die Finger der Zeit versuchen beharrlicher denn je eine neue Seite aufzuschlagen im Buch der geschälten Schicksale. Geister tragen die Sänften verstorbener Dogen über die schweigenden Plätze. Ätherwellen schlagen das Kreuz. Hier ist die Lichtgeschwindigkeit keineswegs konstant, keineswegs konstant.
Die Kopflosigkeit des Tages hat sich in bleierne Schwere verwandelt, das Gewicht der Welt vektoriell nach oben gekehrt. Schnee stillt endlich das Verlangen nach Klarheit und Stille. Niemand hier kreidet Wortwiederholungen an, im Gegenteil, im Gegenteil: der Alaunstein auf zwei Beinen hockt auf den Dächern und bewacht die Träume der venezianischen Dirnen. Wiederhole das Wort und Du findest den Ort Deiner T-Räume! Und Du findest den Ort. Plantagen der Phantasie und der Porzellan-Elephanten. Venen, Tannen, Venedig: Rosen, Posen...
"Lucia?! Lucia?! Wo steckst Du?" Giovanni bekam es mit der Angst. Lucia war verschwunden in den nächtlichen Nebeln gilber Gassen. War sie in einen dieser lüstern an den Mauern leckenden Kanäle geplumpst? Es läßt sich nicht schwer beschreiben, welch tief- und abgründige, sozusagen multidimensionale Übelkeit ihn ankam. "Lucia!! Luciaaa!!!" Es hallte erbärmlich in der Gasse. Fenster taten sich auf. "Luciaaaa!!!!" "Hier wohnt keine Lucia!" brüllte eine umfängliche Matrone und hängte ihre weißen Brüste aus dem finsteren Fenster. Giovanni schwindelte. Er stürzte der Länge nach aufs Pflaster, sein Hut rollte ihm vom Kopfe und zeichnete eine Spirale in den jungfräulichen Schnee...
Als Giovanni wieder erwachte, beugte sich Lucia über ihn. "Ich bin ohnmächtig geworden!" "Ich weiß." "Wo warst Du?" "Ich war immer bei Dir, plötzlich bist Du gestürzt!" "Wo warst Du?" "Ich war bei Dir, doch Du hast mich nicht gesehen!" "Nein!" "Doch! Ich habe Dich am Ärmel gezupft, aber Du hast mich nicht gespürt!" Giovanni versank wieder in der Ohnmacht. Die Matrone hatte ihren Kimono übergeworfen und war in Pantoffeln hinausgetreten in den Schnee. "Ist ihm schlecht, Dulcinea?" "Ja, ich glaube...Aber ich heiße Lucia, nicht Dulcinea!" "Jeder hier weiß, daß Du Dulcinea bist, Kleines, Du brauchst Dich nicht zu verstellen! Der Knabe hier verträgt eben nichts!" "Der Knabe heißt Giovanni. Er ist nicht von hier." "Das ist mir schon klar. Komm, faß mit an!" Lucia und Barbara trugen Giovanni ins Haus. Der Fußboden war mit Walnußschalen, Schneckengehäusen und Zerreichenkapseln übersät, es knirschte und knusperte unter den Schuhsohlen, und die oftbegangenen Pfade im Haus wiesen naturgemäß die kleinsten Splitter auf. An den Rändern der Gänge, Fluchten, Korridore häuften sich die mikroskopischen Gehäuse zu Gebirgen. An den Wänden hingen überdimensionierte Schwarzweißphotos von Tennisspielern aller Herren Länder in den wildesten Verrenkungen, von nackten Glühbirnen beleuchtet, fassungslos schwebend im Raum. Unsichtbare Drähte! schoß es Lucia durch den Kopf.
"Ein Buchstabe hätte genügt! Ein einziger Buchstabe!" Giovanni warf sich hin und her und sackte wieder weg.
"Ich heiße..." hob die Hausherrin an und stolperte. Lucia, die Giovannis Kniekehlen umfangen hielt, konnte den Stoß nicht abfangen und so landeten alle drei im knirschenden Gehäusekapselmeer. "Verflucht! Die unsichtbaren Drähte! Es muß wohl Vollmond sein. In Vollmondnächten sind sie besonders lästig!" Vollmond. Vollmundiger Vollmond. Ein Mund voll roten Weines. Ein Bleistift namens "Bohemia Works" mit vielen bunten Booten drauf.
"Ich heiße Barbara. Jeder nennt mich Babsi, eigentlich haben mich meine Eltern Alraun getauft. Aber Alraun, in Gottes Namen, Alraun ist doch kein Name für ein Mädchen wie mich. Ursprünglich komme ich aus der Lindwurmstadt, aus Klagenfurt in Carinthia. Vor dreißig Jahren bin ich über Modena und Udine nach Venedig gezogen. Angekommen bin ich mit einem Fingerhut und einer Nähnadel, aber bald besaß ich zwei Fingerhüte und viele Nähnadeln, ein Nadelkissen und ein warmes Daunenbett... Aber was erzähl' ich... hilf mir, den Ohnmachtsknaben auf den Diwan zu heben!" Lucia gruselte. Sie hatten Giovanni wohl eine halbe Stunde durch das düstere Labyrinth geschleppt, Ratten und Spinnweben ignorierend, während in entfernten Zimmern einer zu fiedeln schien. Babsi knipste das Licht an, ein zwölfarmiger Luster flammte auf. Lucia sah sich vorsichtig um. Vor den hohen Fenstern waren Seidenvorhänge in Türkis und Zitronengelb drapiert. Großkarierte Ornamentkontraste. Kastrierte Kater thronten auf fleckigen Lehnsesseln. Sie schienen dunkle Sonnengläser zu tragen. Auf dem runden, schweren Barocktisch stand eine übervolle Obstschüssel:
Kiwis, Mangos, Bananen, Orangen, Avocados, Mandarinen.
In einer Glasvitrine lagen in fünf Etagen je sechs faustgroße goldene Kugeln. Lucia ging näher, um sie zu genauer betrachten. Jede einzelne war mit kryptischen Zeichen versehen. "Mit diesen Kugeln wurden seit alters her die venezianischen Dogen gewählt!" erklärte Barbara. "Eine ziemlich komplizierte Sache." Barbara zog einen runzeligen Folianten aus dem Nußholzschrank."Hier stehts in allen Details. Fürchterlich!"
Lucia las. Der ohnmächtige Giovanni war so gut wie vergessen. Während Lucia sich in der Geschichte Venedigs verlor, schloß der Zeitdehner im Zimmer nebenan die Toilettentüre. Jetzt konnte wenigstens der ekle Uringeruch nicht mehr eindringen in die Räume der Jahrhunderte! Barbara aber holte ihre Riechflasche aus der Schublade des Nachtkästchens und hielt es Giovanni unter den Townshend-Zinken. Zunächst gelang garnichts. Der Zeitdehner bekam Besuch und erläuterte in diffizilen Einzelschritten seine Situation, als spielte er eine ewiglich dauernde Partie Tavli. In Wirklichkeit zahlte er lange zurückliegende Schulden in Edelweiß aus. "Jede Formel stellt zunächst eine Art der Zeitdehnung dar!" sagte er. Die goldenen Kugeln. Wie waren sie markiert? Und bestanden sie wirklich aus purem Gold? Wieder drangen seltsam sägende Geräusche durch die Wände des tapezierten Zimmers, der Zeitdehner quälte die Saiten seiner Geige, hingebungsvoller als je zuvor. (Soweit Qual mit Hingabe betrieben werden kann...) "Eine üble Form der Perversion!" dachte Lucia. Ihre Gesichtsmuskeln zuckten verächtlich, während eine Welle des Mitleids durch ihren Körper lief, vom Scheitel abwärts bis zur Basis. Endlich erwachte Giovanni aus seiner Ohnmacht. Erst jetzt bemerkte Lucia, daß sich Schildkröten übers Parkett bewegten, Kopfsalatblätter im lächelnden Maul. Mit einem Satz sprang Giovanni vom Diwan, griff sich an die Gurgel und übergab sich. Die Schildkröten krochen unter die Vitrine. "Weg, nur weg hier!" "Unmanierliches Pack!" kreischte Barbara. Lucia hatte mit einer schnellen Geste den rechten Stöckelschuh vom Fuß gestreift, zerdrosch die Vitrine und griff nach der nächstliegenden Kugel. "Laß den Quatsch, Dulcinea!" Barbara hatte plötzlich eine kleine Pistole in der Faust. "Schon gut Babsi! Schon gut! Calma, calma... leg die Knarre weg!"
"Leg Du erstmal die Kugel weg, Kleines!" "Okay, okay, d'accord!" "Dies ist ein äußerst hysterisches Haus! Ich habe geahnt, daß das passieren würde. Aber damit eines klar ist: mein Pistölchen hier ist gut geölt und keineswegs Attrappe! Also! Keine Dummheiten!
Beruhigt Euch. Und wenn Ihr brave Kinder seid, will ich Euch erzählen, was es wirklich mit den dreißig goldenen Kugeln auf sich hat..." Giovanni und Lucia setzten sich Aufmersamkeit signalisierend auf die Kante der Couch. "Also, wie Ihr ja schon wißt, haben diese Kugeln, die übrigens wirklich und wahrhaftig durch und durch aus purem Gold sind, eine ganz besondere Rolle gespielt in der Historie Venedigs. Mit ihrer Hilfe wurden die legendären Dogen erwählt. Ja wie? Wie? Werdet Ihr fragen. Dazu muß ich freilich ein wenig ausholen: Für das Amt des Dogen kam natürlich nur ein venezianischer Patrizier in Frage. Die Kugeln, vom spitzbärtigsten aller Goldschmiede mit ägyptischen Hieroglyphen versehen, damit sie nicht vertauscht werden konnten, kamen bei der Konferenz des großen Rats in die allmächtige Urne. Ein Patrizierkind verteilte sie an die Erwählten, die, auf daß sie im Augenblick noch anonym blieben, ihre Gesichter mit Karnevalsmasken verhüllten. Aus den dreißig wurden neun gewählt, die wiederum ihrerselbst vierzig Wahlmänner bestimmten. Diese vierzig wurden bei einer neuerlichen Wahl mit Kugeln bestätigt, wenn sie, man beachte, je sieben Stimmen bekamen. Nun ernannten die vierzig aus ihrer Gruppe zwölf, die ihrerseits fünfundzwanzig wählten. Aus diesen fünfundzwanzig wurden itzo neun gewählt, von denen ein jeder fünf zusätzliche Wahlmänner — zusätzlich zu den vierzig — benannte. Durch das Los wurden aus den fünfundvierzig elf ausgesucht, die jene einundvierzig endgültigen Wahlmänner ernannten, die den Dogen bestimmten, wenn jeder einzelne von ihnen neun von elf Kugeln erreichte. Und: NUR wer fünfundzwanzig Stimmen der einundvierzig Wahlmänner bekam, wurde der Dogenwürde für würdig befunden." Barbara Barbarossa hatte sich derart in Rage geredet und infolgedessen garnicht bemerkt, daß sie während ihres Vortrags von den beiden Schneewanderern gefesselt worden war, was eine personenbezogen wohldefinierte Wehrlosigkeit zur Folge hatte.
"Calma, calma, liebe Alma!" lispelte Lucia und grinste. "Weg hier, bloß weg!" Giovanni und Lucia verabschiedeten sich von den Schildkröten und den bebrillten Katzen und verließen fliegenden Schritts die Obskurität dieses Poe'schen Raumes. Auf einmal war der Gang ganz kurz. Die fassungslosen Glühbirnen hatten ihre Fassung zurückgewonnen. Bei genauerer Betrachtung stellte sich sogar heraus, daß es sich um Energiesparlampen handelte. Als sie auf die Straße hinaustraten, fielen dicke Flocken. Momentan wurden sie von dem Gefühl überwältigt, durchs Weltall zu schweben. Der venezianische Vollmond trug sein Halo vornehm wie der Doge seine Halskrause, tänzerisch wie eine Degas'sche Balletteuse ihr weißes Spitzenkleid, das in den Rändern in allen Spektralfarben tiriliert, frühlingsvogel-luftbegeistert im tiefsten Winter. Lucias Oberlid flackerte und beruhigte sich wieder. Lucias Oberlid schwang sich seufzend über die Pupille der schwärzesten Nacht, zärtlich achtsam, somnambul sonnengleich leichtsinnig. Barbara Barbarossa hatte sich glücklich ihrer Fesseln entledigt und stolperte zum Fenster. Lucia und Giovanni bogen eben in eine Seitengasse. Giovanni behauptete nun steif und fest, wieder auf dem Damm zu sein. Zum Beweis gab er eine Anekdote zum Besten. Die Anekdote vom reschen Semmerl. Und die ging so: Ein Betrunkener geht in den Prater, um sich am Schießstend zu vergnügen. Wie es der Himmel will, gewinnt er tatsächlich! — Eine Schildkröte! Doch in seinem angeheiterten Zustand erkennt er sie nicht als Schildkröte und da er sehr hungrig ist, verspeist er seinen Gewinn. — Wieder tritt er an. Wieder gewinnt er. Diesmal bekommt er als Preis einen Luftballon. Er verweigert die Annahme mit den Worten: Haben'S net wieder so a resches Semmerl … ? Lucia findet die Anekdote in Anbetracht des Erlebten zum Kotzen.
Giovanni stimmt widerstandslos zu. Im Hotelzimmer angekommen, sinkt Lucia in tiefen Schlaf. Giovanni greift sich einen Band Trakl und schneidet seine Fingernägel. Er kommt sich vor wie Marlon Brando. Barbara geht in ihrem Zimmer auf und ab und schmiedet Rachepläne, wobei sie, um ihre Nerven zu beruhigen, mit den goldenen Kugeln der Dogen jongliert. Ihre Schildkröten sehen ihr lächelnd zu. Erst im Morgengrauen des nächsten Tages findet sie Ruhe. Von bebrillten Katzen umschnurrt, dämmert sie dahin im Lehnstuhl, nun traumlos, da sie in den Träumen anderer agiert. Amerika ist weit. Auf einmal ist ihre Traumlosigkeit dahin... Hat ein Katzenhaar sie am Ohrläppchen gekitzelt? Sie träumt von einem geflochtenen Bleiteppich, der mitten im Zimmer schwebt... — und auf dem Bleiteppich sitzt ein bebrillter Kater! In der Folge träumt sie von einem Gordischen Knoten, der anscheinend nicht aus Sisal gefertigt wurde, sondern aus irgendeinem Leichtmetall, Lithium oder Aluminium... ein Android, der aussieht wie Alexander der Große kommt auf einer Harley Davidson angeritten, bremst sich ein und holt weit aus! Aber sein Schwert besteht aus Alabaster! Barbara erwacht mit einem Schrei. Der Kater hat die Ming-Vase auf den Boden geworfen. "Carlo! Böses Tier!" Carlo verzieht sich in die Küche. Im selben Augenblick beginnt das samtbezogene Telefon zu schellen. Schwerfällig erhebt sich Barbara und angelt nach dem Hörer, die silbernen Armreifen kommentieren ihre Bewegung nach bestem Wissen und Gewissen. Es ist der Heinrich aus Bremerhaven. "Hallo Heinrich!" "Hallo Babsi! Du kennst Dich doch in Sachen de Chirico so gut aus! Ich hab Probleme mit der Bedeutung des Schlagschattens im Werk des Meisters!" "Beraterfunktion? Kostenlos? Du bist ganz schön dreist!" "Aber Babsi! Wie oft hab ich Dir schon aus der Patsche geholfen!" "Okay, okay, Alter, war nicht so gemeint! — Mh, also paß auf! Der Schlagschatten heißt nicht umsonst Schlagschatten: er schlägt der Welt ein Loch. Sogar einer der bedeutendsten Impressionisten, Auguste Renoir, erklärte die Farbe Schwarz zur Königin der Farben! Der Schlagschatten schlägt der Welt ein Loch, öffnet das Fenster ins All! Es ist nur eine Frage der Imagination, die Sterne im All des Schattens zu beleben! Bedenke, daß Schatten ganze Welten in sich aufnehmen können! Andererseits ist der Schlagschatten für jeden einzelnen Menschen mit einer ganz eigenen Bedeutung versehen. Der eine denkt an Tennisschläger, der andere an Schlagstöcke, der dritte an Charlie Brown. Womit schlage ich meinen Schatten? Die Antwort ist einfach: Mit meinem Körper! Ich schlage den Schatten mit meinem Körper! Das wiederum könnte ich auch interpretieren als: Ich besiege den Schatten mit meinem Körper. Wenn ich nun Schatten lese als Dunkelheit, so besagt mein Satz:
Ich besiege die Dunkelheit mit meinem Körper! Was aber ist mein Körper? Zurück zu de Chirico! Wenn de Chirico fragt: Was ist mein Körper, so kommt er zur Erkenntnis, daß sein Körper der gemalte Körper ist! Der gemalte Körper besiegt die Dunkelheit! Mithilfe des Schlagschattens, klar? Aber es wäre zu simpel, anzunehmen, daß der Schlagschatten unbedingt schwarz sein müsse. Mitnichten.
Zugegebenermaßen hat er einen hohen Anteil Schwarz, aber seinen Charakter gewinnt er aus seiner Umgebung, die ihn minimal färbt, minimal erhellt, die Beimischung abstrusester Pigmente verleiht dem Schlagschatten Charakter, komplementär zur Umgebung gewählte Farbwerte machen ihn widerspenstig, angeglichene sanft und harmonisch, einfügsam und willig. Meiner Meinung nach ist nichts widerlicher als ein williger Schlagschatten. Er schlägt Dich nieder mit dem Poloschläger des geübten Reiters. Ein guter Schlagschatten hat eine geglättete Kante. Was heißt das? Seine Ränder nehmen Farbpixel aus der Umgebung auf und spiegeln diese an der tatsächlichen Kante des Schlagschattens nach innen. Ich bin in die Welt getreten, um Raum zu schaffen! — so könnte der Schlagschatten sprechen, wenn er Stimme hätte. Der Schatten ist die Stille des Bildes. Je mehr er sich dem reinen Schwarz annähert, um so königlicher wird er, könnte man in Anlehnung an Auguste Renoir formulieren. Schwarz, die Königin der Farben!
Warum? Die Stille verleiht dem Ton seine erste Qualität: nämlich nicht Stille zu sein. So ist es mit der Farbe Schwarz: sie gebiert alle Farben aus der Qualität der Stille. Erst Schwarz macht uns klar, wie bunt alles andere ist. Das scheint banal, aber es ist so — und es wirkt." "Schlagschatten, Schlagzeilen! Mit einem Schlag wird mir vieles klar! Du hörst von mir!" Heinrich aus Bremerhaven spießte den Hörer auf die Gabel. Episoden! Alles Episoden! denkt Barbara Barbarossa und schlurft zum Kühlschrank. Himalaya steht in zackigen Lettern auf der Kühlschranktür. Ein Frühstück muß bereitet werden, unbedingt, ein ausgiebiges nährendes Frühstück nach all den Anstrengungen der vergangenen Nacht! Parma-Schinken, Tee, Kaffee und Croissants, Ei, Spaghetti Bolognese und Leipziger Allerlei. Das entspricht dem Erlebten in höchstem Maße, das nährt den ausgezehrten Geist unserer umfangreichen Figur. Batman-Batterien ziehen im Formationsflug über Venedig.
Doctor Dolittle tönt schrillen Schreis gneisbeschichtet durch Gassen und Kanäle. Gneisbeschichtet? Gneis, Feldspat und Glimmer, die drei vergeß' ich nimmer! Da beißt Du auf Granit! Das Einhorn begrüßt den Schmetterling.
Schmi Schma Schmetterling
Flieg und Glück mir bring
Setz Dich auf die Blüten nieder
Schmeck den Nektar immer wieder!
Schmi Schma Schmetterling! …
Batman-Batterien? Hysterisches Gelächter! Zehnender, Zitat, Braten, Teufelsbraten, Bratsche, Kutsche, Rutsche! Mir scheint, Barbara übt sich in Magie... Spanisches Ächzen! Um Himmels Willen! Der Zorn der Jahrhunderte entlädt sich hier in einem Gewitter! Es genügt nicht, zwischen den Zeilen zu lesen, hier mußt Du schon zwischen den Buchstaben lesen! Eine kleine Rechenaufgabe nur! Eine kleine Rechenaufgabe!
Endlich befreit sich der Kellner aus Morpheus' Armen, die roten Stöckelschuhe fallen ihm wieder ein und noch einmal ärgert er sich gründlich. Der große Geist liebt Geschichten, heißt es, und deshalb passieren die Dinge. Der große Geist liebt Geschichten! Und deshalb bin ich über die Stöckelschuhe gestolpert! Wer weiß, welche Bedeutung rote Stöckelschuhe noch bekommen werden im Laufe meiner persönlichen Geschichte! Eventuell will mir das Schicksal einen Wink geben! Ich werde in Hinkunft mehr auf rote Stöckelschuhe achten. Vielleicht werde ich sogar zum Sammler roter Stöckelschuhe? Ja, wir sollten uns wirklich ausgiebiger um unseren Kellner kümmern! Was wissen wir denn schon von ihm? Nicht viel! Er träumt schlecht. Wenn er sich ärgert, ruft er RATATUOILLE! Das ist löblich! Besser als Merda. Ist er in Dulcinea verliebt? — Kaum! Sonst hätte er sich mit einem Lächeln über die abgestreiften Schuhe hinweggesetzt oder mit einem Blick auf die schönen Beine die Augen verdreht... Aber wenn nicht in Dulcinea, in wen dann?
Lucia war entsetzt über Alices dicke Waden. Wie konnte Alice mit solchen dicken Waden durch den Zauberwald laufen? Der verrückte Kater wiederum nahm keinen Anstoß an Alices dicken Waden.
Stattdessen fragte er sie ganz scheinheilig, ob sie Kopf stehen könne? Wobei er seinen eigenen Kopf vom Körper nahm und sich sodann auf diesen stellte. "Ich bin Ypsilon, das betörende Ypsilon!" flüsterte die Raupe und blies Rauch in die Luft, die aus Fernsehzeilen zu bestehen schien. Kann man Fernsehluft atmen? Ist es nicht sehr schwierig, Fernsehzeilenluft zu dekodieren? Das letzte Einhorn fragte das Skelett, ob es wisse, wo die anderen Einhörner alle steckten. Das Skelett lechzte nach Wein. Der Zauberlehrling zauberte Wein. Das Skelett lechzte nach Wein, es hatte lange nicht geweint. Einige Jahrhunderte schätzungsweise. Das erstaunlichste aber war, daß das Skelett den Wein wirklich trinken konnte, er rann nicht zwischen den Rippen wieder heraus. Vom Wein inspiriert, begann das Skelett zu sprechen... "Nackt ist schön," sagte es. "Aber immer nackt, ist einfach unbekleidet. Ich schmücke mich gern mit Zierrat, die Ratte putzt ihr Fell, damit es glänzt. Pures Denken ins Weinglas schenken! Schenk nochmal ein! Es denkt. Es denkt. Hört Ihr, wie es in mir denkt? Ich aber bin ein Gefäß des Denkens. Hört Ihr den Ton?" fragte es und klopfte mit Pochhand an eine mannsgroße Vase aus Ton. "Mein Herz wird zur pochenden Hand, die klopft ans Gefäß meines Lebens. All die vergangenen Gestalten der Geschichte schwirren hier um mich herum. Rot ist grün und klug ist dumm. Eine einzige Träne weint der Himmel in den See, ein Feuerzünglein leckt an der Waage. Fiat Lux! Eins ist eins und zwei ist Muh! Mein Astralkörper schläft. Nichts bin ich. Nichts. Nichts. Ich habe das Glücksspiel erfunden, ich bin der Herr der Welt!"
Lucia griff zur Fernsteuerung und schaltete den Fernseher ab. Sie stand lansam auf, ging zum Fenster und schob die Gardine zur Seite: Grünspan auf den Kuppeln, Algen auf zartrosa Backsteinen. "Die Welt ist immer noch rund, ich sehe keine Batman-Batterien!" "Tja, to bisolo or not to bisolo, that's the question!" Es klingelt an der Tür. Erst ein Mal, dann ungeduldig drei Mal. "Geh Du!" ruft Giovanni aus der Küche. Er bereitet gerade Gemüse-Sugo für die Spaghetti. "Das wird der Rauchfangkehrer sein, der uns zum Neuen Jahr gratulieren will! Gib ihm einen Verdi!" "Denkst Du, das ist genug?" "Aber ja!" Als Lucia die Tür öffnet, schlägt ihr ein gähnend leerer Gang entgegen. Der Gang war leer!" berichtet sie und gähnt. "Wenn es wirklich der Schornsteinfeger gewesen sein sollte, so war es ein sehr ungeduldiger Schornsteinfeger!" "Wahrscheinlich kann er das Neue Jahr kaum erwarten." "Möglicherweise waren es aber auch die Müllmänner!" "Möglicherweise!" Giovanni drückt Tomatenmark aus der Tube... "Angeblich soll es morgen regnen!" "Dann schmilzt die weiße Pracht dahin..." "Ja, ja, die Aggregatzustände des Seins — wie vergänglich doch alles ist! Wenn das Kind noch klein ist, sind die Eltern schon glücklich und stolz, wenn es eine einzelne Spaghetti-Nudel zeichnet. Später ist das dann nicht mehr so!" Giovanni sog an einer Nudel.
"Du siehst aus, als hättest Du Deine Turnschuhe verschluckt!" kicherte Lucia. "Besser Turn- als Stöckelschuhe..." murmelte Giovanni geistesabwesend. Sein Blick war an einer weiß-emaillierten Gießkanne hängengeblieben, die zyklopenhaft-verlassen in den Raum linste. Ein nahestehender Rhododhendron hatte Besitz ergriffen von der weißen Unschuld. Wie das Schwänzlein eines milchgesichtigen Knaben beim Anblick einer magersüchtigen Schönheit des Rinascimento, so, ja genauso blickte diese Gießkannenöffnung zyklopenhaft verlassen in den Raum. Ein nahestehender Rhododhendron hatte Besitz ergriffen? Zweifellos. Selbstbewußt umschlangen seine Ranken Griff und Körper, neugierig blickten die Brillenschlangenköpfe der Blätter umher und raunten einander Raumhaftes zu, während der Kühlschrank gegenüber gluckerte und ächzte. Der jüngste Brillenschlangenkopf beäugte eine weiße Fläche, beäugte seinen Schlagschatten und staunte: das soll mein Schatten sein?!? Nicht, daß der jüngste Brillenschlangenkopf ein Schattendasein führte! Dennoch: er wollte ans Licht, ans wirkliche Licht. Er wollte Orion sehen. Die Sonne! Die Sterne! Die heilige Dreifaltigkeit. Die Schneeflocken. Die kristalline Klarheit des Hagals.
Lucia zog den linken Stöckelschuh aus und knallte ihn vor Giovanni auf den Tisch. "Hallo! Ich bin auch noch da!" Giovanni sah sie durchdringend an. Sein Lid hatte nicht einmal geflackert... "Freilich bist Du auch noch da. Ich weiß, daß Du da bist. Wenn Du nicht da wärst, könnte ich die Dinge um mich nicht sehen!" Lucia erschrak. Sie hatte bloß Aufmerksamkeit gefordert und bekam eine Liebeserklärung. Pronto und unerwartet. "Weißt Du was?" sagte Giovanni. "Weißt Du was, wir fahren nach Florenz! Ich habe Sehnsucht nach S. Maria del Fiore und nach dem Ententeich im Boboli-Garten..." "Das muß begossen werden!" rief Lucia und schaffte ein merkwürdig dicke Flasche Rotwein herbei. "Weinviertler Zweigelt" stand da zu lesen und: "Weinbau Josef F., Groß-Schweinbarth." "Wo hast Du den her?" fragte Giovanni. "Aus dem Kofferraum Deines Wagens!"
"Merde alors! Mir ist kalt!" Lucia hüllte sich in ihren Pelz und starrte auf das Bild des Eisenbahn-Coupés, eine Reproduktion eines Ölbilds, das eine holländische Winterlandschaft zeigte. Wie weißes Rauschen auf dem Fernsehschirm stoben die Schneeflocken über die Oberfläche des gesamten Bildes. Reges Leben auf der Dorfstraße. Fuhrwerke, Pferdeschlitten, Reisigsammler, Brennholzträger, ausgelassene Jünglinge, die das Thema kristallisierten Wassers aufnehmen und in eine Schneeballschlacht verwandeln, elektrisierte Trauerweiden, verzauberte Gnome mit drahtigen Punk-Frisuren, freilich gelichtet und himmelwärts strebend — kontrapunktische Zweiheit wider den fallenden Schnee — ergreifend der diagonale Aufbau, wie rote Pfeilspitzen die Hosenbeine des angreifenden Jünglings im Mittelpunkt des Vordergrunds, klar, der gegnerische Knabe bückt sich gerade, ebenso klar, daß grün seine Hosen und eine Abreibung ihm gewiß, majestätisch und stolz schreitet die Reisigsammlerin einher und aus dem Bilde, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, denn den Reisig balanziert sie gelassen auf dem Kopfe, ihr Bub dagegen holt sich einen Geigernacken mit dem Zeug, eine Allee, eingeleitet mit dem wüsten Paukenschlag einer dreihundertjährigen Eiche, teilt gegenbewegt das Bild, gegenbewegt, quatsch nicht gegenbewegt sondern selbstbewußt, egal, wohl beides, gegenbewegt und selbstbewußt, wo chaotisches Organisationstalent dem Chaos begegnet ist Ordnung — aber das ist ein Sonderfall... Im Hintergrund bemüht sich ein Zwiebeltürmchen verzweifelt gen Himmel, vertrocknet schwarzes, mageres Zwiebelchen, strömungstechnische Notwendigkeit wahrscheinlich. Das Pferdchen des Heuwagens hätte Piero della Francesca Ehre bereitet, so mächtig holt es aus. Das Dorf erhebt sich da als Ameisenhaufen, die Bewohner des Dorfes sind inspiriert von der ameisenhaften Bewegung der Schneeflocken und bewegen sich selbst wie laufende Ameisen, weiße Ameisen und bunte Ameisen dokumentieren auf höchst unterschiedlichen Ebenen und in höchst unterschiedlichen Räumen ihre tänzerischen Möglichkeiten... Vordächer, weiß und wissend, zeigen, daß der Maler vorgedacht hat, ja, hier ist Konzeption, die Konfusion nur scheinbar, Meister Adebar im fernen Ägypten kanns bestätigen, atemlose Tecno-Music stand Pate, alles ist Wesen, alles ist Baum, Figuren nur Zeichen der Erinnerung, Flocken lösen das Rätsel, Flocken ordnen, gliedern und bewegen, relativieren und liefern die Substanz. Weisheit trägt weiß und nicht schwarz!
"Merde alors! Mir ist kalt! Freddo!" Die Landschaft steigt auf im fallenden Schnee. Es wird still und die Dinge lösen sich vom Boden und beginnen zu schweben.
Der Rapido zog unbeirrt durch die stiebenden Sterne. Mit der Routine des trainierten Gewichthebers drückte die elektrische Lokomotive die horizontvermählten Schienen auseinander. Der blaue Schlafwagen träumte im bezwingenden Herzschlag der sich fügenden Räder... Rumtata, Rumtata, Rumtata, Rumtata...
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