Oliver Skorpios

 

 

Treffpunkt Oase

 

 

 

 

 

  Zehn Ultrakurzgeschichten

 

 

 

 

edition antilopenart

wien 1998


Rarität

 

1. Kapitel


  RARITÄT


 

 

Luke  Morac  betrat  ein  Antiquitätengeschäft  in  der Absicht, eine Rarität zu erwerben.

Die Antiquarin,  eine reife Mittvierzigerin namens Lulu Geiernest schlug ihre langbewimperten Lider  nieder und frug nach des Herren Wünschen.

"Eine ganz seltene Rarität..."

Er  räusperte sich,  da er  sich des Doppeltgemoppelten seiner Formulierung bewußt wurde.

"Ja, etwas in der Art, egal in welcher Form."

Lulu Geiernest kicherte verlegen.

Dann  schlug  sie einen Haken,  warf  den  Kopf  in den Nacken,  daß die Perlenkette klirrte und ließ die Räder kreisen.

"Kommen sie mit!"

Sie krümmte ihren weißen Zeigefinger und  stöckelte ins Hinterzimmer,  wobei sie  sich  umblickend versicherte, daß  dieser  seltsam  schöne  Herr  ihr  auch  wirklich folgte.

Dort  stand  ein  stilvolles,  altes  Messingbett,  mit glitzerndem Bettzeug und bestickten Kissen.

"Liebe mich!"  war auf einem der  wulstigen  Pölster zu lesen.  Lulu Geiernest wies  mit  zarter  Hand  auf die rosaroten Schriftzeichen.

Erst  jetzt  wurde  Luke  Morac  klar,  welche  Art von Rarität er gesucht hatte.  Lulu  Geiernest schloß sanft die Tür und drehte den Schlüssel im Schloß.

 

 


Flußwassertee

 

2. Kapitel


FLUSSWASSERTEE


 

 

"Wenn man zum Ursprung zurückkehrt, kann alles sein!"

(Lumpazi von Uruguay)

 

Aus den Konjektaneen des Heiligen Asbus Asant

 

 

 

Ein Heer  von Amazonen  säumte  den trägen  Fluß.  Die Spitzen ihrer Pfeile schaukelten sanft im Rhythmus der  Rippen treibenden Wassers. Von der Montgolfière aus glich der Strom einer Anakonda, die soeben einer mit türkischem Kaffee gefüllten Wanne entstiegen ist und auf dem Weg zum  Ozean im gleißenden Licht  dreier Sonnen pirschend verweilt.

Über  all  dem  lag  der  Geruch  heißen  Molleharzes  und ein molybdänfarbener   Schleier  ließ  eine  sich   nahende  Hochzeit vermuten. Auf welcher Kugel war ich gelandet?

Als ich zu mir kam,  hatten sich die Amazonen in kalifornische Flußzedern verwandelt,  deren Zweige im  Takt ferner Ruderschläge winkten.  Kalifornien konnte es dennoch nicht sein,  wo mein Auge niedergegangen war und um Klarheit rang.  Ein Film bedeckte meine Brust,  als ich nach langem Kampf mit dem  einbeinigen Wächter am Tor  zum Reich des unendlichen Morpheus  erwachte,  die Runen und Ziffern des Torbogens umkreisten mich noch, ein Film menschlichen Schweißes bedeckte meinen  Brustkorb und tropfte nach  rechts und links auf die nach ranziger Eselsmilch riechende Matratze.

Ich  stand   auf   und     ein   paar  Bissen   vom  madigen Schiffszwieback,  den ich am Vorabend noch einmal  über dem Feuer geröstet hatte.

Setbun fing im Schlaf an zu singen.  Ich kratzte mich am Kopf. Draußen hörte man Jaguare knurren ‑ oder waren es nur die Blätter der Palmen, die sich da aneinander rieben?

Mit dem Dogkart konnten wir in dieser Gegend so gut wie nichts anfangen,  wir hätten ihn genausogut im Raumschiff lassen können. Ich   zog   mir   meine   Federweste    an    und    setzte   die Eisvogelschnabelsonnenbrille  auf.  Eine haarige Spinne ließ sich gerade  an ihrem roten  Faden vom Giebel  des Schilfdaches herab. Sie schwebte  eine  Zeitlang  über Setbuns  Ohrläppchen, als sich dieser plötzlich zur Seite  rollte und noch im  selben Augenblick hellwach vor mir stand.

"Sintemalen wir  heute  noch  unser  Gemüt  mit  Blaukraut und Leberwurst ergötzen  werden,  laß uns weiterziehen edler Gesell!" sagte er und kicherte.

Wir  packten  ein  jeder  unseren  sac   a  dos     auch  die Mikadostäbchen vergaßen wir nicht! ‑ und waren auch schon draußen

bei der in den  hölzernen Angeln wie  eine anatolische Nachtigall singenden Türe.

Die  Straßen  waren  mit  gezuckerten  Mandeln   übersät,  mit Konfetti wie Konfetti  sein  muß.  Die Strahlen der Sonne leckten mit  zarten  Zungen  daran und  ihr  Speichel  bildete glitzernde Ränder   um    diese   Samen‑gewordenen    Augen   orientalischer Schönheiten.  Wir nahmen den nächsten Omnibus zum Hafen. Mit viel Geschick und wohl auch etwas Glück chauffierte der schnauzbärtige Grieche den  vollen Omnibus durch  die engen Gassen,  warf er die tuckernde Blechkiste um geweißte Häuserecken...

Gackernde  Hühner,  blökende Schafe, sägende Esel, trompetende Zebras: der Bus war so etwas wie eine Arche Noah auf Gummirädern. Mit gelockerter Muskulatur langten wir am Hafen an. Setbun nießte dem vor ihm  aussteigenden  Bauern  den  Strohhut  vom  Kopfe und erschreckte damit zwei  gehalfterte Pferde  derart,  daß sie sich losrissen und in den Straßenschluchten verschwanden.

Die 'Cidade  de Borba',  unser Schiff,  lag schon am Quai, wir beeilten uns also, noch einigen Proviant zu besorgen, was alsbald erledigt war, und balancierten über die fußbreite Planke an Bord.

Inzwischen  war es  sechs Uhr abends  geworden, die Tanzstunde der langen Schatten begann...

Wir nahmen die Hängematten aus dem sac a  dos,  entrollten sie wie Schriftrollen unbekannter Herkunft und zurrten sie hinter dem Steuerhaus  am  Oberdeck  fest.  Eine Geruchsmixtur aus Dieselöl, Fisch,  faulendem Unrat  und  Bratenfett  umspülte  unsere Nasen, während wir abwechselnd auf das Treiben im Hafen und auf den Fluß hinunterblickten. Aus einem Transistorradio tönte ein Walzer, wie man  ihn  sonst  nur  beim  Landeanflug  auf  den  Flughafen  von Schwechat bei Wien zu hören bekommt.

Endlich,  als die  Sonnenscheibe mit ihrem goldenen  Bogen das schadhafte  Dach  des  Gebäudes  der   Hafenverwaltung  berührte, begannen die Matrosen mit den Vorkehrungen zum Ablegen...

Die 'Cidade de Borba' bekam dadurch, daß sich alle Menschen an Bord bei diesem  Manöver auf  die  Hafenseite  schlugen,  um ihre Brotbeutel   und   Taschentücher   zu   schwenken,   eine  solche Schlagseite, daß sich die Besatzung gezwungen sah, einen Teil der Passagiere wieder auf die Plätze zurückzutreiben.

Als wir die Flußmitte erreichten,  ging von der Abendsonne rot gefärbter  Regen  nieder.  Vor unseren Augen zog  nun die violett dampfende Hyläa vorbei,  wie  unser  Alexander  von  Humboldt den Regenwald nicht zu  Unrecht genannt hatte,  wenn  ich  mich recht erinnere.

Wir machten  ein  Tänzchen,  tranken  guten  Flußwassertee und richteten uns auch sonst häuslich ein.

  Nach einigen Tagen bekam Setbun einen  verklärten Blick und begann zu philosophieren:

"Während der Flußfahrt  geht  das  Gefühl  für  Raum  und Zeit verloren, Maßstäbe plumpsen über Bord wie Kieselsteine ins dunkle Wasser,  einen festen Tagesablauf gibt  es nimmer.  Fühlt man den bleiernen Kobold der Müdigkeit am Rücken hochkrabbeln, verkriecht man sich in der blauen oder grünen Hängematte...

Wenn sich der Magen  knurrend meldet,  knabbert man Cakes, und der mit  der  weißen  Pupille  des  Mondes  versehene Nachthimmel zaubert Dich an die Reling,  wo Du  vielleicht stundenlang stehst und den strömenden Spiegel schlaftrunken und schweigend befragst, bis Dich die Bugwelle wieder ans Tageslicht holt."

Und ‑ plötzlich das Thema wechselnd, sagte er:

"Weißt  Du eigentlich,  daß dieser Urwaldboden  da garnicht so reich  an  Mineralstoffen  ist,  wie man aufgrund  der wuchernden Pflanzenschaft gerne annehmen  würde?  Ja,  im  tropischen Urwald vermodern  abgestorbene  Pflanzen  sehr  schnell,  im  Eilschritt sozusagen,  freigesetzte Nährstoffe werden sogleich  von Myriaden feiner  und  feinster  Wurzelfäden  aufgesogen  und   wieder  der lebenden Vegetation zugeführt..."

 

 

 

Pluto

 

 

3.Kapitel

 


PLUTO


 

 

Es begab sich zu der Zeit,  als der Mann vom  Neptun das erste Mal mit Marco Polo zusammentraf.

Dichter  Regen  verwandelte  den  Vorplatz  in  eine  milchige Lagune.    Neptuno   schob   die   Vorhänge   zurück,   die   wie überdimensionale Spinnennetze  das ohnehin trübe  Licht abfingen. Er nahm die  blaugrün getönten Haftschalen mit  einem geschickten Fingerschnippen von den Pupillen.

Marco  Polo  gegenüber hegte Neptuno  keine  Zurückhaltung, er wußte,  daß jener ein Mann von Welt war und sich geschwind an das purpurne Leuchten seiner Augen gewöhnt haben würde.

Marco   Polo    hatte   sich    im    barocken   Schaukelstuhl niedergelassen,  die Füße  hochgelagert,  und  war  gerade dabei, einen  Streifen  Fruchtkaugummi  umständlich auszupacken. Neptuno wandte sich  ruckhaft  um    es bereitete ihm immer  noch einige Schwierigkeiten,  sich auf die geänderten Schwerkraftverhältnisse einzustellen ‑ und fixierte Marco Polo.

"Sie wissen also, worum es geht, Signore Polo?"

Marco  Polo zuckte unter dem Blick  des  Neptunusers zusammen, ließ dann ein langgezogenes Brummen vernehmen,  zog eine elegante Sonnenbrille  aus  der  inneren  Brusttasche   seines  himmelblau gefütterten,  aus weinrotem Sammet  gefertigten Jacketts, steckte den Kaugummi,  nachdem er ihn in der Mitte geknickt hatte, in den Mund,  und  setzte die  Gläser schließlich auf  den Höcker seiner imposanten  Nase,  um  welche  ihn  selbst  Carl  Malden beneidet hätte...

In reduzierter Phonlage sagte er dann so etwas wie:

"Ich denke schon..."

"Das ist fein!"

Neptuno bürstete seinen frischgepflanzten Schnurrbart.

(An und für sich sind Neptunuser haarloser denn Aale!)

"Das ist fein!  Sie werden also den Chinesen das Geheimnis der Seidenraupe entlocken und  bekommen dafür von  uns die Unterlagen des Digitaluhrbaus auf der Grundlage singenden Quarzes..."

"Digitaluhrbau?   Ein  Weingarten  in  der  Toskana  wäre  mir tausendmal lieber!    Aber bitte,  ich sehe ein, daß es nicht in Ihrer Macht steht, solche Wünsche zu erfüllen!"

"Aber Signore Polo!  Wer wird sich denn in seinen Bestrebungen auf derart  selbstbezogene Ziele beschränken?  Bedenken Sie doch, wie die Digitaluhr  das Leben der  Menschen  verändern  wird. Die Menschheit  wird  im  Rhythmus des  Quarzkristalls schwingen! Das entspricht  in  etwa  dem Sprung vom  Glühstrumpf zum Laserlicht! Kohärenz!  Verstehen  Sie?  Kohärenz heißt das  Zauberwort!

Nun gut...

Was ich Ihnen  noch anbieten könnte,  wäre eine Heidelbeerfarm in der Nähe Tuneps, der Kapitale unseres Planeten..."

"Heidelbeerfarm? Nein danke...

...außerdem  sind  die  klimatischen  Bedingungen   auf  Ihrem Heimatplaneten    nicht    gerade    das    Nonplusultra   meiner Vorstellungen!"

"Wir  würden  Ihnen natürlich  einen  Raumanzug  zur Verfügung stellen,  der irdische Verhältnisse simuliert,  das versteht sich von selbst..."

Jemand klopfte an die Hotelzimmertüre. Der Hoteldiener brachte Neptunos Sommeranzug herein, frisch aus der Putzerei.

"Danke Bingo, hängen Sie ihn dorthin!"

"Ich bin nicht Bingo!  Mein Name ist Marsidan!"

 

Der vermeintliche Hoteldiener zog seine  Maske herunter, wobei zwei lange, grüne Fühler hervorschwuppten und wie Weidengärten im dämmrigen Zimmer hin und herwippten. Neptuno bedeckte seine Augen und wandte sich ab.

"Entschuldigen  Sie mich  einen Augenblick!"  flüsterte er und verschwand  im  Badezimmer.   Man   hörte   heisere,  befremdende Geräusche, nicht unähnlich dem Krächzen eines hüstelnden Raben.

"Was hat er ihnen  für das Geheimnis der  Seidenraupe geboten? Einen Apfel und ein Ei oder einen halben Apfel und zwei Eier?"

"Ein Wochenendhaus auf dem Neptun!"

"Hä hä,  ganz schön knausrig!" Der Marsianer gab ein gurrendes Kichern von sich.

Das Rauschen der Clospülung unterbrach ihn und  er spitzte die Ohren,  im  wahrsten  Sinne  des  Wortes,  denn  seine  Hörorgane ähnelten nun Bleistift,  deren Spitzen in Richtung Geräuschquelle schauten.  Neptuno kehrte zu seinem  Platz am  Fenster zurück. Er hatte einen roten Seidenschal  um den Bauch  gebunden, auf seiner Stirn klebte ein kleines, herzförmiges Silberplättchen. Die Farbe

seiner Iris war nun taubengrau,  aber noch eine Spur  dunkler als zuvor.  Außerdem  trug  er  eine  goldene Nase,  die Gasmaske der Neptunuser.

"Der  sensible   Neptuno...!"   ätzte  Marsidan  und  hob  die Flügelarme wie ein startender  Star.  Den Achselhöhlen entströmte ein  beißender  Geruch,   der  selbst   die  Temperatur  gröberer menschlicher Nasen um einige Grade sinken ließ.

Marco Polo erhob sich langsam aus dem Schaukelstuhl und wandte sich der Tür zu.

"Ich möchte die geehrten lieben Herren nicht weiter stören..."

"Bleiben Sie noch einen Augenblick, Signore Polo!" näselte der Marsianer. Marco Polo hob die Brauen und hüstelte.

"Unter  diesen  Umständen Adieu,  die Herren!"  Er ergriff die Türschnalle...

"Ich  biete Ihnen einen toskanischen  Palazzo  mit überdachtem Swimming Pool und gepflegtem Renaissance‑Garten für das Geheimnis der Seidenraupe!"  zischte der Marsianer,  während sich in seiner Mundhöhle ein Gewitter zu entladen schien.  Der Gestank im Zimmer war mit einem Mal verschwunden.

"Das hört sich ja recht passabel an!"  Diesmal war es an Marco Polo, die Ohren zu spitzen.

"Leere Versprechungen!  Hören Sie nicht auf ihn!"  Neptuno hob warnend den Zeigefinger.

"Hier!  Der Kaufvertrag als Beweis!"  Marsidan warf Marco Polo ein orangefarbenes Couvert zu.

"Graf   Veritaverde   ist   mit   unseren  Vertragsbedingungen einverstanden.  Sie  brauchen nur  'ja'  zu sagen und der Palazzo gehört Ihnen!"

"Du morscher Marsianer wirst mir nicht ins Handwerk pfuschen!"

Neptuno   holte   aus   und   fesselte    Marsidan    mit   einem violett‑schimmernden Lasso,  das er urplötzlich aus seinem Daumen herausgeschossen hatte.  Marsidan bildete schnell eine Sichelnase und durchschnitt die schleimige Schnur.

Ich möchte  meinen  Lesern die schockierenden Details  des nun folgenden Kampfes ersparen; er endete schließlich damit, daß sich die  beiden unter  Blitzen,  Zischeln und bruzzelndem Donnern und Rauschen in Nichts auflösten.

"Träume  hat man zuweilen..."  dachte  Marco Polo,  sprang vom Diwan  auf   und   schloß  behende   die   Fenster.  Gerade  noch rechtzeitig,  denn  im  nächsten Augenblick ging  ein Wolkenbruch nieder, der sich wahrlich mit allen Wassern gewaschen hatte.

 

 

 


Celsius contra Fahrenheit

 

4. Kapitel


CELSIUS CONTRA FAHRENHEIT


 

 

Herr P.  Celsius,  ein Avantgardist  in  jeder  Beziehung, ein wieselflinker  Waschbär,   mit  anderen  Worten   ein  gepflegter Borsalinoträger,  übersprang elegant die schnitzelgroße Pfütze am Eingang  des   Museums   und   verschwand  hinter   der  schweren Mooreichentür.  Sein Verfolger, ein gewisser Mr Fahrenheit, legte die  zur  Schau  getragene  Heiterkeit   augenblicklich  ab   und beschleunigte seine langen Schritte.

Helena,  die zufällig Zeugin  dieser Szene  wurde, schloß ihre Handtasche und hob den gekrümmten Zeigefinger in Ohrläppchenhöhe, um ein Taxi anzuhalten.

P. Celsius verließ den Lift im dritten Stockwerk, steckte sich ein  Stollwerck‑Bonbon  hinter  die  linke   Wangenwand,  drückte behutsam die schmiedeiserne Lifttür zu und schlich per Pedes noch eine  Etage höher.  Mr Fahrenheit fieberte.  Wohin sollte er sich wenden?

Er steckte dem Portier eine  Tafel Schokolade zu und  bat ihn, sich  hinter  dessen  Pult  verbergen zu dürfen,  aus Gründen der nationalen  Sicherheit,  wie  er  ihm  glaubhaft  versicherte.

P.   Celsius  war   inzwischen   bei   den  Neoimpressionisten angelangt.

"Signac,  Signac, Signac... ah, da bist Du ja!" P. Celsius zog blitzschnell  eine  Spraydose aus der Jackentasche,  richtete die Düse auf das Bild und drückte ab.  Augenblicklich  schrumpfte das Gemälde auf ein Zehntel der ursprünglichen Größe.

"Was treiben Sie da?"

Ein  hünenhafter  Wärter  kam  angerannt,  bedrohlich  mit dem Schlagstock   gestikulierend.   Herr  P.  Celsius  besprühte  ihn kurzerhand.

"Hilfe!  Hilfe!  Ich schrumpfe!"  rief der Wärter, wobei seine Stimme immer höher und leiser wurde.

"Keine Angst,  mein  Lieber,  in zwei  Stunden bist  Du wieder okay..."  grunzte Celsius, steckte den Signac in die Westentasche und spazierte zum Lift.  Trotz  verringerter  Körpergröße brachte der Wärter den Mut auf, Celsius zu verfolgen.

"Haltet den Dieb!" piepste er mit mäuschenhafter Stimme.

Aber  P.  Celsius  war  nicht  aus  der  Ruhe  zu  bringen und beschleunigte seinen Schritt um kein Iota.

Als ihm der Däumling jedoch an die Wade  seines rechten Beines sprang und ihn zu beißen versuchte,  nahm er ihn  hoch und setzte ihn auf einer modernen Plastik ab.

"Marino  Marini ‑  Stehender Akt"  stand da auf einem goldenen Schild.

Mr Fahrenheit hatte inzwischen Verdacht geschöpft,  P. Celsius könnte vielleicht  doch  übers Dach  entfleucht  sein; er verließ also sein  unbequemes  Versteck  und drückte  auf  den Liftknopf. Hatte  der Chef  nicht irgendetwas von  Impressionisten gefaselt? Hatte die Leuchtziffer nicht das dritte  Stockwerk angezeigt, als er das Foyer des Museums betreten hatte?

Helena wollte soeben die Taxitüre schließen, als sie bemerkte, daß sie  ihren Schirm im Museum  vergessen hatte.  Da sie während der  Fahrt den Wetterbericht gehört  hatte ‑  er  verhieß drallen Sonnenschein ‑ beschloß sie, unverzüglich umzukehren.

"Sie haben Glück, Meister!" sagte sie zum Chauffeur.

"Ich weiß,  Madame!" antwortete dieser und kurbelte fleißig am Volant.  Draußen flackerten die ersten Neon‑Röhren auf. Plötzlich betätigte  der Taxifahrer  das Bremspedal  derart inbrünstig, daß Helena um ein halbes Haar im vorderen Fußraum gelandet wäre.

"Haben Sie das gesehen, Madame?"

"Ja,   eine   schwanzlose   Meerkatze   oder   ein   lautloser Brüllaffe..."

"Das war kein Tier, wenn Sie mich fragen!"

"Was dann? Ein Roboter?"

"Was weiß ich? Vielleicht eine Halluzination?"

"Wie dem auch  sei..."  Helena lehnte sich wieder  im Fauteuil zurück.  "Fahren  Sie  weiter,  ohne  Schirm  fühle  ich  mich so schirmlos..."

 

Mr Fahrenheit hatte just den Lift in Bewegung  gesetzt, als er P.  Celsius die Treppe  herabschlendern sah,  die Lippen zu einem Liedchen geschürzt,  die Hände in den Hosentaschen. Mr Fahrenheit reagierte sofort: Halt und Retour!

P.  Celsius  registrierte  Fahrenheits nervöses Umhergeschalte auf der Stelle und wußte auch schon,  was zu tun war. Er nahm die Hände aus den Hosentaschen  und die Beine  in  die  Hände: Keinen Deut  zu  früh!  Die  Lifttür schwang auf,  schmetterte gegen das Treppengeländer,  Jugendstil übrigens, und heraus stürzte wie ein Stier der liebe Mr Fahrenheit.

 

An der Mooreichentür stieß P. Celsius derart heftig mit Helena zusammen,  daß diese ihren Hut  und  ihre  Perücke  verlor  ‑ sie genierte sich wirklich ein bißchen,  so  glatzköpfig dazustehen ‑und P. Celsius... seinen Vorsprung.

Während P. Celsius,  Gentleman der alten Schule, der er war, Helena beim Zurechtrücken der Perücke Hilfe leistete,  packte ihn Fahrenheit  am  Kittel.  P.  Celsius  riß sich  los  und stürmte, jeweils fünf Stufen auf einmal  überspringend, die Eingangstreppe hinunter.  Und ‑ da stand glücklicherweise ein Taxi mit laufendem Motor.

"Was will man mehr?" dachte er.

Aber  wer  hätte  Mr  Fahrenheit  eine  derartige Behendigkeit zugetraut?  Keine vier  Schritte  vom Wagen entfernt  hatte er P. Celsius wieder eingeholt. Was blieb p. Celsius anderes übrig, als auch diesen Verfolger kräftig zu besprayen?

Mr  Fahrenheit  hatte sich  das zweistündige  Zwergendasein ja selbst zuzuschreiben! P. Celsius riß den Verschlag auf:

"Victoria Station, aber schnell!"

"Victoria Station? Die gibt es hier nicht!"

"Ach so? Na, dann: Gare du Nord!"

"Der Wagen ist leider  besetzt,  mein  Herr,  es tut  mir sehr leid..."

"Mir auch!"  rief  P.  Celsius, nahm den besprühten Taxifahrer und setzte ihn auf die Bordsteinkante neben Mr Fahrenheit.

"Viel Spaß, Ihr zwei!"

"He, was haben Sie mit meinem Chauffeur angestellt?!"

Helena war sichtlich entrüstet.

"Er ist ein bißchen  geschrumpft,  sorry!  Aber wenn  es Ihnen nichts ausmacht, fahre ich sie! Wo darf ich Sie absetzen?"

"Via Appia!"

"Via Appia?  Aber  dann  sind  Sie ja  Helena  Markopolos, die weltberühmte Schriftstellerin! Das nenne ich einen Zufall!"

"Irrtum, mein Lieber!"

"Nicht Helena Markopo...?"

Helena nahm ihre Maske ab.

"O nein! Sie, James?"

"Richtig!"

P.  Celsius  zückte  abermals sein Spraydöslein,  womit er bei James Beagle jedoch an  den falschen  geriet:

...denn  dieser  besaß natürlich einen  Neutralisator,  und er

zögerte keineswegs, diesen auch anzuwenden.

 

 

 

 


Nelkreich Katerakt

 

 

 

5. Kapitel


NELKREICH KATERAKT


Ein Sesselkleber war er wahrlich nicht,  eher schon ein Tischerlrücker,  der  liebe Nelkreich Katerakt,  wie er sich  in  einem  Anflug  von  Selbstironie  seit seinem siebenunddreißigsten Geburtstag nannte.

So könnte die Erzählung beginnen,  tut  sie aber nicht, denn  wer könnte  einen Mann  namens Nelkreich Katerakt ernst nehmen,  auch wenn sich im Verlauf der Ereignisse herausstellen würde,  daß er  wider  Erwarten Charakter besitzt?

Es fängt also alles ganz anders an.

Franz  Novak hatte den ganzen  Nachmittag zeitunglesend im Kaffeehaus zugebracht und nun begannen seine Bein zu zappeln und nach Bewegung  zu schreien.  Er verließ das Cafe Bräunungshof,  wie  er  es scherzhaft bezeichnete, und setzte sich in Richtung Donnerbrunnen in Trab.

Die  Sonne  umarmte  die  Rundungen  der  allegorischen Figuren,  brachte das Patinagrün  zum Sprechen, erschuf kleine,  dunkle Nester und einen zarten, unhörbaren Ton der Wehmut, wie stets am Spätnachmittag, denn...

Franz  Novak betrachtete  mit  spöttischem  Lächeln die Einbände in der  Buchhandlung: Verpackungskunst, dachte er.

Dann dachte  er über die Vergangenheitsform  von Denken nach.

"Ich  dachte..."  sagte  er  laut,  während  sich  sein sprechender  Mund in der Auslagenscheibe  spiegelte. Es hört sich  so  an,  als setzte ich meinen  Gedanken ein Dach auf.  Wenn ich etwas gedacht habe,  habe ich quasi (quasi!)  meinen Gedanken  ein Haus gebaut,  in dem sie wohnen können.

(Und wenn es ein Gewitter gibt, werden sie nicht naß!)

Diesen Gewittersatz dachte er aber  gewissermaßen schon in Klammern, denn er kam ihm irgendwie lächerlich vor.

"Was dachten Sie?"  schreckte ihn plötzlich eine Stimme aus  seinen  Gedankenkräuseln,  eine  angenehme,  helle Stimme einer großgewachsenen Dame mit  Dutt, deren Füße zudem in roten Stöckelschuhen steckten, was Franz Novak als  erstes  registrierte,  denn sein Blick war während des Selbstgespräches zu  Boden gesunken  und hatten auf dem grauen Asphalt geruht.

"Ich,  äh,  ich dachte,  ich kenne Sie zwar nicht, aber ich werde Sie trotzdem  fragen,  ob Sie Lust haben, mit mir ins Kino zu gehen?"

"Und ich dachte, Sie denken über die Vergangenheitsform von Denken  nach..."  sagte die  Dame,  die,  wie Franz Novak  jetzt   festestellte,   in  verblüffender  Weise Margareth   Stoneborough‑Wittgenstein   ähnelte,   oder besser   gesagt  jenem   Porträt,   das   Gustav  Klimt seinerzeit von ihr angefertigt hatte.

"Ich kann nämlich Gedanken lesen..."  flüsterte sie ihm ins in diesem Frequenzbereich seltsam sensible  Ohr, in ein Ohr,  dessen Gehörgang von hier direkt  ins Zentrum der Welt führte.

 

 

 


Kritschzasiu

 

6. Kapitel


KRITSCHZASIU


Es war ein Tag im Dezember.

Die Stadt ächzte unter dem Abgasgestank der metallenen Pferde. Alle Ritter  waren furchtbar schlecht  aufgelegt  und  wichen den sehnsüchtigen  Blicken der schönen  Maiden  wohlbedacht  aus; sie legten die Hand  an  den Griff ihres  Schwerts,  kickten  mit den Stiefelspitzen Kiesel  beiseite  und  trotteten  ihrer  Wege; der Gestank,  der  überall herrschte,  hatte  sie  in  gewisser Weise ungenießbar gemacht.

Die Häusertürme ragten grau und dünn in die beige Substanz des Himmels.   In  den  Gasthäusern  krähten  die   Ventilatoren  der Klimaanlagen,  auf  den  allerorts  angebrachten Wandbildschirmen konnte man Tennisspieler  beobachten,  wie sie  ihre  Bälle übers Netz setzten und dabei Millionen verdienten.

Die Stimmung war auf dem Nullpunkt,  es stellte  sich nur noch die Frage, fällt sie noch weiter oder steigt sie wieder?

Es war dies  naturgemäß  auch eine Frage des  Luftdrucks, eine Frage der Luftdicke.  Die Kanäle der Stadt dröhnten und die darin schwimmenden Plastiksäcke diverser Kaufhäuser sandten ihre bunten Signale gen Himmel und in die Tiefe.

"Als der alte  Harry Lime noch hier  verkehrte..." wiederholte

die  rauchgeschwängerte Stimme eines umfangreichen  Mannes, eines Mannes,  der nicht zur Rittergilde zählte,  vielmehr Mitglied der in    der    Öffentlichkeit    gefürchteten    Gesellschaft   der freischaffenden Detektive war.

"Als der alte Harry Lime noch hier verkehrte..."

Es  war  allen  ein  Rätsel,  wie  diese  merkwürdigste  aller Gesellschaften ihre  Männer  finanzierte,  doch  munkelte man von dubiosen   Waffengeschäften.   Aber   es   war   nicht   nur  von Waffengeschäften die Rede, sondern auch von Software‑Schmuggel zu entfernten  Planeten.  Und  nicht  zuletzt  dürften  diese  Kerle Psychopharmaka  und   Rattengift  als   Quelle   ihrer  Einkünfte verwendet haben.

Abgesehen  von ihren riesigen Bierbäuchen waren sie eigentlich unauffällig. Es war ihnen nicht leicht beizukommen. Zweifelsohne. Aber...

Aber es  gab da  eine  Gruppe,  die  ihnen schwer  zu schaffen machte:  die jugendlichen Computerfreaks, oft Burschen von zwölf, dreizehn Jahren, die regelmäßig in die Datenbanken eindrangen und dort heilloses Durcheinander anrichteten,  so  ganz nebenbei, vom Computerterminal im  Wohnzimmer  ihrer  Eltern,  ein Auge auf dem TV‑Schirm, wo gerade Fellinis "Stadt der Frauen" lief, das andere auf den flackernden grünen Zeilen des Terminals.

Obwohl monatlich neue Datensicherungen einprogrammiert wurden, gelang es den rothaarigen Burschen mit  dem Irokesenschnitt immer wieder,  die  gespeicherten  Daten  zu  löschen, beziehungsweise, neue,  irreführende  Satzgebilde einzugeben,  was  die subversive Tätigkeit der Gesellschaft der freischaffenden Detektive jedesmal aufs Gründlichste denaturierte.

Wo liegt nun diese Stadt, von der hier berichtet wird?

Auf Kritschzasiu, einem Planeten der zweiten Unterwelt.

(Wie sagt man auf Kritschzasiu "Guten Tag"? Ganz einfach:

"Zipf mi net an!" ‑ und dazu niest man kräftig!)

Die Typen von der Gesellschaft  der  freischaffenden Detektive interessieren  mich  nicht die Bohne.  Ich kicke sie  hiermit aus diesem Kosmos hinaus...

 

 


Treffpunkt Oase

 

 

7. Kapitel


T R E F F P U N K T   O A S E


 

 

 

Haidrun  war lange Zeit  unterwegs gewesen im  Wüstenstaub. Am Horizont  zeichnete sich  sanftmütig flimmernd eine Oase  ab, die Haidrun,  die Eidechse der Sahara,  kräftig ausholend ansteuerte. Da  huschte der Schatten  eines Heißluftballons über  sie hinweg. Haidrun glotzte hinauf in die gelbe Bläue des Himmels  und konnte drei  Personen ausnehmen,  die sich über die  Brüstung des Korbes beugten und zu ihr hinunterwinkten.

Die Burschen  waren pünktlich,  das  mußte  man  ihnen lassen. Haidruns Spur glich einem Kreuzottergerippe, aber sie machte sich darüber  keine Sorgen,  denn der Wüstenwind tat  gute Arbeit. Die Knotenschrift ihrer Erinnerung blitzte aus ihren wissenden Augen, die alterslos und gleichmütig ihren Weg ausleuchteten. Sie wußte, wie wichtig den drei Männern aus London  ihre  Botschaft war, die sie ihnen züngelnd überbringen würde, und deshalb hatte sie keine Sekunde gerastet.

Sie beschrieb drei Kreise um das Dutzend Palmen  der  Oase und ließ  sich  dann am Rande des dampfenden  Tümpels nieder,  der zu dieser Tageszeit einsam und verlassen ins All starrte.

Die drei Männer,  es handelte sich um Captain Beefhaar, seinen Freund und Gelehrten Dr. Julius Reindl und dessen Sekretär Franz, waren von Jules Verne geschickt worden,  um Informationen für ein Buch zu sammeln.

Da waren das Wissen und die  Erfahrung Haidruns unentbehrlich. Der Korb  des Ballons setzte  mit einem dumpfen  Knirschen direkt neben  dem  Tümpel  auf.   Captain  Beefhaar  und  seine  Freunde überreichten   Haidrun  als  Geschenk  des   Schriftstellers  ein punktförmiges leuchtendes Wesen in einem  goldenen Käfig. Haidrun bedankte  sich  mit zischelndem Züngeln und wies  die  Männer mit hypnotischem Blick an,  sich im Halbrund zu setzen  und die Ohren zu spitzen.

"Zunächst  übergebe  ich   Ihnen  den  Schlüssel:   er  lautet A‑E‑I‑O‑U.  Er ist leicht zu merken, aber bitte behandeln sie ihn trotzdem vorsichtig, damit kein Zahn ausbricht oder verlorengeht. Und nun zur Botschaft ‑ stenographieren Sie ruhig mit, Franz! Sie lautet: RT MNH KLP FGRW SDD CHVB D HK Z TRT WSWX BZ JKFG B KHK BH

KLK FBT RTGSFG KL LK JHNM Z ZRZ TFT. Ihr Auftraggeber wird sicher keine Schwierigkeiten haben,  den  Schlüssel  richtig anzuwenden. Ich danke Ihnen für ihre Aufmerksamkeit, meine Herren!"

 

 


 

 

Am SEH

 

8. Kapitel


A M    S E H


 

 

 

Rauhhäutig  sitzt er  auf  dem  Fels  am See, animalisches Wohlbefinden in der Leibesmitte, auf der Haut und in jedem  seiner zahlreichen Härchen.

Er   blickt   hinauf   in    die   quellenden Wattebäusche,  auch Wolken genannt, und spürt das   Kühl   der   Wassertröpfchen   an   den Nasenflügeln.

Er blickt hinaus auf den See und sieht weiche Wellen durch das  moorige  Wasser  fahren, in dessen   tiefe    gemütliche   Quastenflosser grundeln.

Rauhhäutig sitzt er auf dem Fels am SEH...

In   den  Wäldern  grummeln  Bären   und  die fleißige ABC‑Meise  baut buchstabengetreu ihr Nest.

 


 

Silberne Segel

 

9. Kapitel


WARTEN AUF SILBERNE SEGEL


 

 

Die wulstigen Lippen waren stumm.

Dunkle  Augen  liebkosten  den weißglimmenden Horizont. Die Quellwolken quasselten in einem fort  über  seinem  Haupt,  aber  es  war ein leises Quasseln,  ein süßes Quasseln, das ihn kaum berührte. Er wartete auf silberne Segel, auf   ein  bronzenes  Schiff   mit  silbernen Segeln.

Das   Dorf   war   zur   Gänze    aus   Kuben zusammengesetzt,  deren  Rauminhalt schon vor langer Zeit durch König  Xenon genormt worden war.  Vor einem solchen Kubus saß der bärtige Mann mit den wulstigen Lippen, eine Statue im Winde  der Zeit,  ein  bewegungsloses Wunder, umspült  von den gläsernen  Wirbeln  der nach Salz schmeckenden Luft.

Die Brandung regelte hier alles.

Die Kunde ihres Gleichmaßes ging weithin über alle  Welt,  und  die  wenigen  Wanderer, die diesen   Ort   trotz   der  unendlich  großen Hindernisse und Hürden  erreichten, behielten das Rauschen auf Lebenszeit im Muschelgehäuse ihrer Ohren.

 

 

 

Die Vorlesung

 

10. Kapitel


DIE VORLESUNG


 

 

Ein Mann betritt das Anatomische Institut der Medizinischen  Fakultät   in   der  Währinger Straße  zu  Wien.   Zwischen   den  Grüppchen disputierender  Studenten  hindurch  bahnt er sich den Weg über die Treppe.

Eine Blondine verteilt den Standard.

Wer ist der Fremde?

Was sucht sein Sinn im Reich der Bürgerlichen Medizin?

Er schnuppert.

Es ist halbzwölf Uhr  Winterzeit; der Oktober greift schon nach dem errötenden Laub.

Das  mächtige  Treppenhaus  nimmt   ihn  auf, säulenhafte Archaik umgibt ihn, den scheinbar zielstrebigen...

Er erklimmt den Mezzanin.

"Eintriit nur für Studenten"  steht in weißen Lettern     auf      weißen     Flügelzargen.  Spiegelbildlich erstrecken  sich  nach beiden Richtungen   lange   türbewährte  Gänge,  mit zartem   Chloroformkarbolkaffeeduft  gefüllt, bergend  so  manches   organische  Geheimniss (wohlgemerkt mit gedoppeltem s!).

Modelle   der    Embryonalstadien,   klebrig, verstaubt,  aus  undefinierbarem  Material in holzgefaßten  Vitrinen,  auch Tierknochen und Skelette nimmt er wahr.

Aus dem Buffet  im  ersten  Stock  dröhnt das Stimmengewirr  der   Kinder  bessersituierter Bürger dieser traditionsreichen Stadt  an der blaugrauen  Donau.  Das Sigmund  Freud Museum ist nicht weit,  zur Berggasse sinds bloß'ein paar Schritte.

Im augenblick  hat  der  Mann  Gewißheit über seine Kunst,  sicher, er ist mit körperlichen Fehlern   behaftet,   aber  das  särkt  seine geistigen Fähigkeiten. Ob er Magier ist, weiß ich  nicht zu  sagen.  Sein Haupthaar lichtet sich bereits,  sein Schritt  jedoch hat heute eine   seltene   Perfektion.    Eine   schöne Vorlesung über Neurologie, das wäre jetzt das Richtige und genau nach  seinem Geschmack, am besten  gehalten   von   einer  weißhäuptigen Koriphäe seines Faches, ja.

Auf  der  Treppe  zum  Dachgeschoß  sitzt ein Mädchen mit  runder Intelektuellenbrille. Der Fremde mag solche Brillen nicht, sie sind für ihn Fassungen einer gläsernen Unerotik, einer Prüditität,  fälschlicherweise, ein vor Tagen gefaßtes    Ur‑    oder    Vorurteil,    eine Gebäudeerrichtung im Geiste,  ein Narrenturm, den die Stadtväter aus musealen Gründen nicht abtragen lassen.

Als er,  der wohlgekleidete,  über die Stufen heraufeilt,     wirft    sie     ihm    einen interessierten Blick zu. Komplexe Abtast‑ und Perzeptionsmechanismen    werden    in   Gang gesetzt. Nichtsdestotrotz erreicht unser Mann unbeschadet die  Tür  zum  Vorlesungssaal, er öffnet sie, tritt ein in ein in der Tat etwas

sauerstoffarmes  Lebenszelt,  zieht  die  Tür vorsichtig hinter  sich zu,  um die Vorlesung nicht  zu  stören.  Einige Stehplätze  an der Ballustrade  sind  noch   frei,  keine  roten Pferde zu sehen.

Doch   ach,   es   handelt   sich   um   eine Physikvorlesung      für      Erst‑      oder Zweitsemestrige...

Ein  Professor mit  düsseldorfer Zungenschlag hält die Stunde,  über drei  Etagen verteilen sich die Kinder.  Auf dem Pult, fast benötigt man  einen Operngucker,  um es zu  sehen, ist ein einfacher Versuchsaufbau installiert: ein Wagen auf einer schiefen Ebene,  und sogleich wird  auch  der  Mechanismus  ausgelöst.  Der Wagen rollt über die schiefe Ebene  hinab und wird   am   Ende   seiner   Bahn   von  einem Gummipuffer reflektiert, worauf er beinah zum Ausgangspunkt zurückkehrt, so gering sind die Reibungskräfte gehalten.

Il   Professore   erklärt   den   Vorgang  in gewählten Worten:

"Wie Sie sehen können,  verkürzt sich der vom Wagen zurückgelegte Weg mit  jeder Reflexion; das  ist  auf  den   Luftwiderstand  und  die Umwandlung   von   kinetischer   Energie   in Wärmeenergie in Form der auftretenden Reibung zurückzuführen..."

Der   Fremde,   der  sich   auf  eine  schöne Neurologievorlesung gefreut hatte, verdunkelt sich und erinnert  auf einmal  an  eine Figur aus Rembrandts Nachtwache, sein Ärger scheint beträchtlich,  denn  sein  Gesicht zeigt eine karminrote Färbung.

"Reibungskräfte,  Luftwiderstand!" murmelt er verächtlich und  fährt kurzentschlossen durch seinen Spitzbart.

"Dir  werd'   ich  die  Mechanik  schon  noch austreiben,   o   Du   mein   Professore   di Dusseldorfo!"  denkt er und umfaßt mit Daumen und  Zeigefinger  der  Linken  seine kräftige Nasenwurzel,  während  er  mit der Handfläche der  Rechten  einen   Parabolspiegel  bildet, dessen  Brennpunkt  sich   auf   den  kleinen Rollwagen  richtet,  drei  Stockwerke  tiefer über die endlosen  Reihen studentischer Köpfe hinweg.

Inzwischen wendet der Wagen  auf halbem Wege, doch das soll  sich  schon  bei  der nächsten Reflexion am Gummipuffer ändern:

Das metallene Gefährt bewältigt plötzlich und wie  aus   heiterem   Himmel  beziehungsweise Herbsthimmel          wieder         siebzehn Zweiunddreissigstel der  Versuchsstrecke. Die Temperatur  der  Handfläche  unseres obskuren Mannes  steigt  auf 48  Grad Celsius, und als das Mädchen mit der  Intelektuellenbrille von der  Treppe  nun   auch  den  Vorlesungssaaal (wohlgemerkt  mit  getrippeltem  a!) betritt, schießt  der  Versuchswagen  über   die  Bahn hinaus  und  landet  mit  unnatürlich  lautem Scheppern auf dem Fußboden.

Gelächter.

Doch dem Professor ist klar,  daß  niemand am Versuchsaufbau gefummelt hat  und  sein Blick verklärt sich.

"Ausnahmmen bestätigen die Regel!" bemerkt er sinnend.

Der  Mann  mit  den  Schnallenschuhen breitet seine  Fledermausflügel  aus,  dreht ein paar Ehrenrunden    unter    dem    Plafond    des Vorlesungssaals  und  verglüht.  Seine  Asche regnet  auf  die  Köpfe   der  Studenten.  Il Professore ruft nach seinem Assistenten, aber der weiß von nichts.

 

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